Über die Waffen eines Atlanters

...oder aber auch: Kayanos beschwerlicher Weg zu einem gesunden Selbstbewusstsein.


Atlantis ist eines der wenigen Länder mit Nationalwaffe.
Der atlantische Peïtir ist eine aus einem einzigen Stück Metall getriebene Lanze mit gekrümmter Klinge. Obwohl „getrieben“ nicht wirklich stimmt, denn der Peïtir wird von seinem Besitzer beschworen, eine Fähigkeit, die sich bei jedem Atlanter im Laufe des Heranwachsens entwickelt. Mehr oder weniger.
Bei Kayano, der seine Eltern beim Versinken der Stadt verloren hatte und deshalb bei den beiden Königskindern im Palast aufwuchs, hatte sich das Schicksal etwas Spaßiges ausgedacht. Während rechts und links von ihm Altersgenossen bereits fleißig mit ihren neu erschaffenen Waffen trainierten, war er immer noch nicht in der Lage, seinen Peïtir hervorzurufen.
Als sich schließlich seine Hand um ein Stück von ihm hervorgebrachtes Metall schloss, war es der Griff eines Dolches.
Klar, dass ihm das einige verbale Demütigungen der anderen jungen Atlanter einbrachte. Egal, wie oft er sich bemühte, nie war es eine Lanze, die vor ihm erschien, sondern Dolche, Dolche, Dolche. Der Waffenmeister des Palastes staunte nicht schlecht, denn diese Klingen waren in Form und Aussehen jedes Mal anders. Auch konnte Kayano nicht nur einen Dolch auf einmal beschwören, sondern schon bald ein halbes Dutzend!
Aber all das konnte den Halbwüchsigen nicht aufmuntern, denn nie, so glaubte er, würde er sich in einem Zweikampf mit einem Lanzenträger messen können. Der Waffenmeister erkannte jedoch sein großes Potential und traf eine außergewöhnliche Entscheidung. Er schickte Kayano zu den Möwen von Atlantis.

„Die Möwen“ war der Name der besten Artistengruppe der Stadt. Obwohl ihre artistischen Fähigkeiten in der ganzen Stadt geschätzt und unerreicht waren, der trotzige Kayano war überhaupt nicht begeistert, das Gelb des Zirkus' überstreifen zu sollen.
Die Artisten nahmen den schweren Fall dennoch gerne bei sich auf.
Als sie ihn begrüßten, hielt sein Lehrer ihm nicht ein gelbes, sondern ein türkisfarbenes Artistenhemd hin. Als Kayano sich wunderte, warum er allein sich anders kleiden sollte als der Rest der Gruppe, erklärte ihm sein Lehrer mit einem gewitzten Lächeln:
„Als einst die Möwen gegründet wurden, trugen wir Westen, die aus türkisfarbenem Faden gewebt und mit gelbem Blattwerk verziert waren. Da kam ein Abgesandter des Königshofes zu uns und verbot uns diese Kluft, weil gold auf türkis die Farben des Königs seien. Kein Problem, meinte eine der Möwen und drehte kurzerhand alle Westen auf links.
Aus Achtung tragen wir noch heute diese Farbkombination. Du allerdings kommst vom Palast und deshalb stehen dir die Farben des Königs zu.“
Kayano winkte sofort ab und erklärte, dass er vom König nur als Spielgefährte für seine Kinder aufgenommen worden und eigentlich der Sohn einfacher Fischer war.
„Oh“, meinte da sein Lehrer, „wieso schaust du dann wie ein schmollender Prinz?“
Da erkannte Kayano, dass er kein Recht gehabt hatte, so schlecht von der Artistengruppe gedacht zu haben und arbeitete hart.
Schließlich hatte er seinen eigenen Körper und die Dolche gemeistert. Zum Fest der großen Shibuernte hatte er die Gelegenheit, sein Können als Messerwerfer vorzuführen. Nachdem sie gesehen hatten, wie er ohne mit der Wimper zu zucken der furchtlosen Prinzessin die frisch geernteten Früchte von Kopf und Händen schoss, wagte es keiner mehr über Kayano und seine Dolche zu spotten.

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