41 Not what I asked for!

42 Sie wurde WAS?!

43 Hälst du das für eine gute Idee?

 



Not what I asked for!

Auf der Burg indessen hatte Lika ihr kleine Zeichenstunde beendet. Sie hatte hastig skizziert aber darauf geachtet, möglichst viele Details aus ihrer Vision (sie haderte immer noch damit diese komische Erscheinung zuvor so zu nennen) festzuhalten. Aber würde es reichen, den Weg der beiden Bestienritter nachzuverfolgen?

Da sie Lebensfrost an sich gebracht hatten, bedeutete das, dass sie Tinka begegnet waren und aus irgendeinem Grund zurück zur Burg gegangen sind, um sich einer bestimmten Sache zu vergewissern – dass sie jetzt durch die magische Schutzmauer konnten. Wie sie das gemacht hatten, wusste Lika nicht genau, aber da Thalia im Moment nicht da war, blieb ihr nichts anderes übrig als das zu machen, was in ihrer Macht stand, um die Burg zu verteidigen. Jetzt, da sie die Aufgaben an Grischmo und Aicyn verteilt hatte, wollte sie sich schnell auf die Suche nach Tinka machen. Sie wusste nicht genau, was sie erwartete, betete aber, dass es nicht zu spät war.
Als sie die Zwingermauer Richtung Wald passierte, sah sie einen riesenhaften Raubvogel im Sinkflug auf sie zusteuern. Zu ihrem Entsetzen hatte er zwei menschliche Körper zwischen seinen Klauen, die er genau vor ihr auf dem Boden ablegte.
Lika hatte sie gerade als die der Kommissarin und eines ihrer Helfer wahrgenommen, da verwandelte sich der Vogel vor ihren Augen und nahm wieder menschliche Gestalt an. Mr. Quirr, der bereits auf dem Weg zum ASN gewesen war, hatte plötzlich einen Sinneswandel gehabt und war umgekehrt. Als er an der Stelle im Wald angekommen war, konnte er gerade verhindern, dass die beschworene Sphinx Tinka tötete und brachte die beiden hier her.
„Was ist mit den beiden passiert?“
Lika ging in die Hocke und hob vorsichtig Tinkas Kopf an. Mr. Quirr erklärte er ihr atemlos und in wenigen Worten, was passiert war.
„Hier kann Tinka auf keinen Fall bleiben, die Burg ist kein Krankenhaus!“
Zu Likas Erstaunen bewegte die Kommissarin auf einmal ihren Kopf und bewegte die Lippen.
„Mir geht’s gut. Wirklich. Ich hab' nur zu viel Kraft verbraucht.“, kam schwach aus ihrem Mund hervor. Lika wusste zwar nicht, was „zu viel Kraft verbraucht“ heißen sollte, wollte aber sofort vehement widersprechen. Da setzte Tinka sich vor ihren Augen auf.
„Wichtig ist jetzt Mr. Lancer. Menschliche Körper für dienstbare Geister sind nicht dazu geschaffen, lange seelenlos zu sein. Wenn sein Körper noch länger von seiner Seele getrennt bleibt, kann sie nicht mehr dorthin zurück.“
„Das wird nicht zu verhindern sein.“, sagte Mr. Quirr und sein Wortfall klang bitter, „Selbst wenn wir rechtzeitig einen Erzmagier auftreiben, der einen zeitlosen Raum erschaffen kann, wird er zu lange dafür brauchen.“
Während Lika Mr. Quirr zuhörte, begann sie in Gedanken, Möglichkeiten abzuwägen. Und eine Dimensionsreisende hatte viele Möglichkeiten!

„Mit einem zeitlosen Raum kann ich zwar nicht dienen, aber ich hätte da einen geeigneten Ersatz. Ich hoffe, das funktioniert.“
Also führte sie Mr. Quirr, der sich wieder in einen Vogel Rock verwandelte und Tinka und Mr. Lancers Körper ein weiteres Mal trug, in den Burghof hinein.

Lika steuerte auf direktem Weg auf den Bibliotheksturm zu. Aicyn, der ausnahmsweise einmal tat wie ihm geheißen und im Hof Holz hackte, sah ihr verdutzt nach. Beim Anblick der ihr folgenden Kreatur hechtete er erschrocken hinter einen Holzstapel und warf ihn dabei um. Der Vogel Rock heftete beim Passieren die Augen auf das Lärmpony, krümmte ihm aber zu Aicyns Erleichterung kein Haar. Der Zentaur hatte eindeutig keine Begabung zum Springpferd.
Die Ritterin stieß die Türflügel des Bibliotheksturms auf und rief nach Lexford.

„Gnädiges Fräulein, ich darf auch sie noch einmal darauf hinweisen, dass in einer Bibliothek Ruhe zu herrschen hat.“
Der Spiegel tauchte unvermittelt hinter ihr auf. Auf seiner Trageplattform stapelten sich einige dicke Wälzer. Beim Anblick von Mr. Quirr zog er die Stirn kraus.
„Schleppen sie schon wieder Viehzeug an?“
Der Vogel Rock wurde vor seinen Augen immer schlanker, bis aus ihm wieder ein breiter Mann in schwarzem Anzug geworden war.
„Oh.“, kommentierte der penible Bibliotheksspiegel.
„Lexford, ich entschuldige mich für mein unerhörtes Auftreten, aber ich muss ganz nach oben.“
„Natürlich. Sobald ich diese Bücher weggeräumt habe-“
Aber seine Herrin war schon dabei, die wertvollen Bücher von der Plattform zu schieben und mit Mr. Quirrs Hilfe Mr. Lancer darauf zu hieven.
„Oh.“, sagte der Spiegel ein weiteres Mal. Er klang jedes Mal noch empörter.
„Okay, es kann losgehen.“
Lika hatte sich zu dem leblosen Körper auf die Plattform gesetzt, um sicher zu gehen, dass er nicht herunter fiel. Die beiden wurden von Lexford hinauf getragen und passierten die magische Barriere zu Namins Bibliothek.
Lika blinzelte und schaute auf Mr. Lancer herab.
„Einen ungewöhnlichen Patienten haben wir da.“, sagte Namin.
„Könntet ihr mir jetzt vielleicht sagen, was das werden soll, Meisterin?“
Lexford war noch so aufgekratzt, dass er ganz vergaß, Namin gegenüber höflich zu sein.
„Ich möchte dieses Buch hier einsortieren, Lexford.“, sagte sie und deutete auf den Mann.
„Mit Verlaub, Meisterin Namin, das ist kein Buch.“
„Ist das hier Namins Bibliothek, Lexford?“
„Ja, das hier ist Namins Bibliothek.“

„Dann sehe ich kein Problem damit, dieses leere Buch hier aufzubewahren.“
„Ihr beschließt einfach, dass das hier jetzt ein Buch ist?!“
„Ist das nicht offensichtlich?“

Der Spiegel seufzte.
„Wie ihr meint.“
Er schwebte an das obere Ende eines Bücherregals heran, das noch nicht komplett voll war. Es war gerade so breit genug, dass der Mann hineinpasste.


„Er wird sich doch nicht umdrehen und dann herunterfallen?“, sprach Lexford sein Bedenken über die Unterbringung des neuen „Buchs“ aus.
„Hast du jemals ein Buch gesehen, das heruntergefallen wäre, weil es sich umgedreht hat?“, fragte Namin und hob eine Augenbraue. Ihr todernster Gesichtsausdruck war irritierend.
„Ich halte am besten meinen armen Mund.“, brummelte Lexford.
„Wie du meinst, aber richte meiner lieben Amtsträgerin bitte aus, dass ihr wertvolles Stück in Namins Bibliothek vor jeglichem Verfall geschützt ist. Sie hat gut entschieden, diese leere Hülle hier herzubringen.“
Das hoffte Lexford auch. Denn wenn das Teil vergammelte, würde er protestieren. Und spätestens, wenn es zu stinken anfinge, würde er es hinauswerfen!

Lika ließ sich von dem Spiegel am Boden des Turms absetzen und bedankte sich brav. Sie nickte Mr. Quirr zu, der jetzt Tinka auf den Armen trug und lächelte vorsichtig.
„Wenigstens über dieses Problem müssen wir uns jetzt keine Sorgen mehr machen!“

Dann brachten sie Tinka zu Bett. Da wenig Zeit war, wählte Lika das Zimmer, in dem sich heute Morgen noch das Edelsteinduo vor ihr versteckt hatte. Welch überaus ironische Doppelbelegung...

„Was ist eigentlich genau passiert?“, fragte Lika, als die Kommissarin ihren Kopf auf das Kissen gelegt hatte und bereits wieder die Augen schloss. Sie hatte kaum äußerliche Verletzungen, machte aber trotzdem einen sehr schwachen Eindruck.
„Zwei Bestienritter haben uns im Wald angegriffen, die Seele von Mr. Lancer extrahiert, mich mit einer Sphinx angegriffen und sind dann mit dem Kristall abgehauen“,fasste Tinka zusammen, „Kurz: Ich habe es vermasselt.“ Mr. Quirr wollte ihr da widersprechen, aber Lika war schneller.
„Eine Sphinx? Stehen die nicht eher so auf... naja – Kreuzworträtsel?“

„Einer der Bestienritter hat sie aus einem Schädel manifestiert. Wahrscheinlich stand das Wesen unter seiner Kontrolle. Ich konnte es schließlich verjagen. Ich habe etwas... Furie in mir.“ Tinka zögerte bevor sie den letzten Satz schließlich so beendete.
„Oh ja, das kenne ich. Sadira kann auch manchmal eine Furie sein. Aber du solltest vielleicht trotzdem besser einen Arzt aufsuchen.“
„Nein. Besser nicht“, sagte Tinka und schüttelte den Kopf, „Ich hätte jetzt viel lieber eine heiße Schokolade.“

Lika sah Zustimmung suchend zu Mr. Quirr auf, aber der zuckte nur mit den Schultern.
„Also gut – Schokolade können wir auftreiben!“
Sie verließen das Zimmer und ließen Tinka sich ausruhen.
Mr. Quirr schob sich die Sonnenbrille, die er sonst nie abnahm (es sei denn, er wollte weg fliegen), auf die Stirn.
„Sie schienen gerade etwas nicht mitbekommen zu haben. Als Frau Stutenhobel sagte, sie habe etwas Furie in sich, meinte sie damit nicht die Redewendung, sondern, dass eine ihrer Vorfahren tatsächlich eine Furie war.“
Likas verständnisloser Gesichtsausdruck signalisierte ihm, dass sie es immer noch nicht ganz begriffen hatte.
„Furien sind eine äußerst wehrhafte menschenähnliche Spezies, die von der Zivilisation abgesondert oft in Sümpfen, seltener in Wäldern lebt und ähnlich wie Vetteln sehr wenig Ansehen unter Kreisen genießt.“
Lika sah betreten zu Boden.
„Oh. Scheint, als müsste ich meine Hausaufgaben noch machen. Ich bin tatsächlich nicht sehr bewandert, was „Unter Kreisen“ angeht.“
„In diesem Fall ist man allerdings besser bedient, wenn man seine Hausaufgaben nicht gemacht hat. Es gibt keine keine Gesellschaft, die so snobistisch und voller Vorurteile ist, wie unter Kreisen. Frau Stutenhobel macht ihre Arbeit hervorragend, Furienblut hin oder her. Und in diesem Fall hat es ihr wahrscheinlich das Leben gerettet. Als ich ankam, war die Bestie schon nicht mehr da. Es ist wahrscheinlich, dass die Kommissarin im Moment der Lebensgefahr in eine Art Berserkerrausch verfallen ist, was den Angreifer verscheucht hat.“
Sie liefen den Korridor entlang, als Lika einen weiteren Beschluss fasste. Die heiße Schokolade musste noch einen kleinen Moment warten.
„Das heißt, diese Sphinx könnte sich noch in der Nähe hier im Wald aufhalten...Sehr gut. Dürfte ich sie um einen kleinen Gefallen bitten, bevor sie dem ASN berichten gehen?“
In diesem Moment wurden sie von Grischmo abgelenkt, der sich die Stufen der Treppe vor ihnen hoch schleppte.
„Kein... Geist da.“, japste er und hielt sich die Seite.
Normalerweise ging er dem Geist des Burgbesitzers aus dem Weg und er konnte es schon von weitem spüren, wenn er sich irgendwo in der Nähe aufhielt, denn dann sträubte sich sein Nackenfell, aber dieses Mal konnte er völlig furchtlos den Keller durchqueren.

„Das habe ich mir fast schon gedacht. Dieser Nekromant hat ihn sich geholt. Na dann... ein Grund mehr.
„Mr. Quirr, ich würde gerne mit ihnen nach dieser Sphinx suchen. Wenn die Bestienritter jemanden von uns haben, schnappen wir uns jemand von ihnen.“


„Sind sie sich... da sicher?“
Grischmo legte die Ohren an und schüttelte stellvertretend für Lika heftig den Kopf.

„Nein, bin ich nicht, aber auch wenn sich die Sphinx nicht mitnehmen lässt, wäre es doch besser, zu wissen, wo sie sich gerade aufhält.“
Lika hielt Grischmo mit beiden Händen an den Schultern fest und er zuckte merklich zusammen.
„Goldohr - du machst jetzt erst einmal eine heiße Schokolade und bringst sie Kommissarin Tinka in das Wald-Gästezimmer. Und wenn du damit fertig bist, hilfst du Aicyn beim Aschenkreis herstellen.“
Da gab es keine Widerrede.

„Aber Lika -“
Platzte es dem Shandranen heraus, als sich Lika und Mr. Quirr bereits abgewandt hatten,
„ich wollte dich noch einmal wegen dem Buch sprechen...“
„Dem Buch der Königin?“

„Genau... ich glaube... ich habe da was auf dem Titelblatt... da war so ein Zeichen und ich glaube, das könnte das Zeichen von Hagidian Bukka gewesen sein.“

„Zu spät, Grischmo!“, schalt Lika und Grischmo musste schon wieder die Ohren anlegen bei ihrem lauten Tonfall.
„Das Buch hat Thalia mitgenommen. Heute morgen habe ich dich gefragt und da hattest du natürlich keine Lust, das Buch anzuschauen. Aber natürlich, wenn dein geliebter Chaologe etwas damit zu tun haben könnte, dann ist es auf einmal wieder interessant!“
Grischmo trat von einem Fuß auf den anderen und verzog sich dann eingeschüchtert in Richtung Küche.

Hagidian Bukka. Gab es irgendetwas, wobei der Kerl nicht seine Finger im Spiel hatte?
Auf ihrer langen Reise durch die Dimensionen hatte sich dieser Name wie ein roter Faden gezogen. Und hatte sie ihn nicht sogar als Abbildung an der Decke in der Burg des Reitervolks gesehen?
Vielleicht hätte sie Grischmo doch nicht so einfach wegschicken sollen. Allerdings stimmte es auch, dass ohne das Buch erst einmal nichts zu machen war. Jetzt hoffte sie, dass Thalia es wohlbehalten wieder bringen würde.


Sie warf sich schnell ihren widerstandsfähigen Reisemantel über und rannte zu Mr. Quirr, der als großer Vogel auf dem Innenhof stand.
„Entschuldigung. Es kann losgehen. Vielen Dank, dass sie uns helfen.“

Mr. Quirr machte nur eine rasche Kopfbewegung. Anscheinend konnten sich dienstbare Geister nicht der menschlichen Sprache bedienen. Der Vogel Rock streckte eine Kralle aus und Lika hob skeptisch ihre Arme. Sie war schon auf Drachen geflogen, auf Besen und hatte sich auf alle möglichen Arten durch die Luft fortbewegt, aber noch nie war sie in den Krallen eines Raubvogels davon getragen worden. Sie stellte es sich recht unangenehm vor.

Tatsächlich hielt sie die Luft an, als sich die mächtigen Krallen um ihre Taille schlossen. Und dann, mit einem Ruck, erhob sich Mr. Quirr in die Luft und Lika konnte gar nicht mehr darüber nachdenken, ob er seinen Griff nicht noch etwas nachjustieren könnte. Sie hielt sich einfach nur fest, als der Wind ihr die Haare ins Gesicht wehte und der Luftdruck ihren Kopf nach unten zwang.
Sie sah, wie die Wachkuh ihnen nach schaute und wie sich die Burg wieder in Ruinen verwandelte, als sie die Schutzbarriere durchbrachen. Dann schwenkte Mr. Quirr nach rechts und steuerte auf den Wald zu.
Er kreiste so weit über den dichten Wipfeln, dass Lika Probleme hatte, irgendetwas außer grün wahrzunehmen. Sie vertraute einfach darauf, dass Mr. Quirr mit seinen scharfen Adleraugen mehr bemerkte. Tatsächlich landete er nach kurzer Zeit in einer Baumlücke und setzte Lika behutsam auf dem Boden ab.
„Wir sind ganz in der Nähe. Die Sphinx scheint unbekümmert zu sein. Bitte halten sie sich im Hintergrund, bis ich sie sichergestellt habe.“, sprach er in menschlicher Gestalt zu ihr, beschrieb ihr die Richtung und Entfernung zu ihrem Ziel und schwang sich wieder in die Lüfte.
Lika schlich, so unauffällig sie es konnte, näher heran. Dann war es so weit.
Sie sah den Vogel Rock in einiger Entfernung auf den Boden zustoben und rannte los.

Auch wenn die Sphinx für einen Menschen eine gefährliche Erscheinung war, mit einem Riesenvogel Rock konnte sie es nicht aufnehmen. Der Löwenkörper der Sphinx strampelte unter den mächtigen Krallen in Panik um sich. Während der Männerkopf vor Entsetzen und Angst aufschrie.
„Gnade! Ich ergebe mich! Bitte schont mein Leben!“
Lika holte tripple spiral hervor und prüfte die Intention der Sphinx. Tatsächlich schien sie jetzt keine Gefahr mehr für sie darzustellen.
„Wir werden dich loslassen, wenn du nicht weg rennst.“
Da die Sphinx nichts darauf antwortete, sondern nur Augen und Zähne zusammen kniff,, gab Lika Mr. Quirr das Zeichen, von ihr abzulassen. Der Greifvogel erhob sich mit einem kurzen Flügelschlag und ließ sich hinter der Sphinx nieder.
Das Fabelwesen konnte sich nur mit Mühe und Not aufsetzen. Scheinbar war es schon vor ihrem Überraschungsangriff arg ramponiert gewesen. Tinka musste ihr wahrhaftig einen Kampf geleistet haben...
„Weg rennen. Wie peinlich.“, schnaubte die männliche Sphinx, „Sie müssen verzeihen. Eigentlich bin ich eine Sphinx mit Umgangsformen. Aber ich stehe nun mal in den Diensten dieses abscheulichen Eyffl Moorstabs und dessen Befehl hat mich zu einem hirnlosen Zombie gemacht. Es ist normalerweise nicht meine Art, blindwütig Leute anzugreifen.“
Lika hockte sich vor diese redegewandte Kreatur hin.
„Entschuldigung akzeptiert. Ich wusste gar nicht, dass es männliche Sphingen gibt...“

Der angesprochene schaute überrascht.
„Eine Person, die Sphinx richtig deklinieren kann. Ich bin erfreut. Aber natürlich gibt es männliche Sphingen. Was glauben sie, wo sonst die Babysphingen herkommen?“

Lika hatte auch nicht gewusst, dass es Babysphingen gab, aber wenn man darüber nachdachte, machte es Sinn.
„Vielleicht sollte ich mich vorstellen. Mein richtiger Name ist recht kompliziert, deshalb dürfen sie mich gerne Phalx nennen.“
„Nein das geht nicht.“, sagte Lika, „ich bestehe darauf, den ganzen Namen zu verwenden.“
Der Herr Sphinx seufzte und holte Luft.

„Nexusarius Rembrandt Hannibal Pyronester Dunnjolf Perphalanx. „Hannibal“ war die schwachköpfige Idee meines Vaters, er Ruhe in Frieden.“

Hatte die untote Sphinx ihrem Vater gerade eine angenehme Grabesruhe gewünscht? Und warum hatte die Sphinx nur etwas an „Hannibal“ auszusetzen? Der ganze Name war Schrott.
„Also schön, Nexusarius Rembrandt Hannibal Pyronester Dunnjolf Perphalanx... das hier ist Mr. Quirr und mein Name ist Lika, hocherfreut.“
Mr. Quirr glaubte es nicht. Er erinnerte sich noch genau daran, dass diese Frau heute Morgen Frau Stutenhobels ehrwürdigen Familiennamen verunstaltet hatte. Aber diesen Wortwulst bekam sie fehlerfrei auf die Reihe?
Weder Lika noch die männliche Sphinx ließen sich nach der erfolgreichen Namensnennung etwas ansehen, weder Überraschung noch Stolz.
„Als du noch bei deinem Meister gesteckt hast, hast du da irgendetwas mitbekommen?“, fragte Lika stattdessen.

„Das ist eine sehr interessante Frage, meine Liebe“, entgegnete die Sphinx, „Ich habe tatsächlich oft und fleißig gelauscht, wenn der Nekromant sich mit anderen unterhalten hat, auch wenn ich rein gar nichts sehen konnte dabei. Das ist eine durchaus erforschenswerte Erscheinung, wie ich meine – wieso funktionieren mein Ohren, wenn ich keinen Körper habe, aber meine Augen nicht?“
„Ehm. Jaaa, Nexusarius Rembrandt Hannibal Pyronester Dunnjolf Perphalanx. Das ist wirklich durchaus interessant. Wenn du so gute Kontakte zu den Bestienrittern hattest“, fuhr Lika fort, „dann kannst du mir bestimmt ein paar Fragen zu ihnen beantworten.“

Die Sphinx presste die die Lippen aufeinander und zog die Stirn kraus. Sie betrachtete ihre Tatzen und als sie wieder aufschaute, war ihr Gesichtsausdruck wieder genau so gelangweilt – gleichgültig wie zuvor.
„Meine Liebe, eigentlich hatte ich den Eindruck gehabt, dass sie das Wesen der Sphinx ganz gut verstanden hatten. Natürlich kann ich ihnen keine Fragen beantworten. Wo kommen wir da hin. Ich bin nicht das Orakel von Delphi – ich bin eine Sphinx.“
Lika fand, dass es beim Informationsgehalt der Aussagen beider keinen wirklichen Unterschied gab.
„Ich stelle Rätsel. Auch wenn ich wollte, ich kann gar nicht anders.“

Lika verschränkte die Arme vor der Brust, stand aus der Hocke auf und nahm eine kämpferische Haltung ein.
„Na dann mal los. Ich höre. Was ist das Ziel der Bestienritter?“

Die Sphinx schlug aufgeregt mit dem Löwenschwanz auf dem Boden hin und her, so dass Mr. Quirr schon Zuckungen bekam, ihn aufzupicken wie eine Schlange. Nach einer kurzen Denkpause lang der Schwanz wieder still da und noch nicht einmal die Quaste rührte sich. Mit einem milden Lächeln auf den Lippen sagte die Sphinx mit ihrer dunklen Stimme:

„Das Ziel der Bestienritter ist der Grund, warum die Welt heute so ist, wie sie ist und weshalb sie nie bleibt.“
Die Sphinx sah Lika erwartungsvoll an.
„Gut.“, sagte diese und nahm wieder eine lockere Haltung ein. „Das reicht mir schon.“
„Und?“

„Nichts „und“. Ich habe im Moment keine Ahnung, was das bedeuten soll. Danke für das Gespräch. Mr. Quirr, könnten sie so nett sein, mich zur Burg zurück zu bringen?“
Der Vogel Rock kam um die Sphinx herumgehüpft und streckte ein Bein aus.
„Wollen sie sich das Rätsel nicht lieber aufschreiben? Vielleicht fällt ihnen ja später noch etwas ein.“
Die Sphinx wirkte sichtlich enttäuscht, dass ihr Gegenüber keinerlei Ehrgeiz zeigte, das Rätsel lösen zu wollen, aber Lika winkte ab.
„Ich habe das Rätsel nicht gelöst, also dürfen sie mich nicht passieren lassen. Das heißt, sie müssen hier sitzen bleiben und aufpassen, dass ich nicht auf diesem Weg an ihnen vorbei spaziere! Verbessern sie mich, wenn ich mich irre, aber ich glaube, SO ist das Wesen der Sphingen...“, sagte die Ritterin triumphieren. Bei der Sphinx machte es „Klick“ Sie schaute sich suchend um und antwortete leicht sauer.
„Das ist jawohl ein Witz! Hier ist ja noch nicht mal ein Trampelpfad!“
„Tjaa, aber das ist eindeutig nicht mein Problem. Sie hätten sich ja eine bessere Stelle aussuchen können, um mir das Rätsel zu stellen. Also, mein sehr geehrter Herr Perphalanx – obwohl ich mir nicht sicher bin, welcher Teil ihres Namens zum Familiennamen gehört – ich empfehle mich und bis später vielleicht.“
Dann nickte sie Mr. Quirr zu, dass er sie schnell hier herausbrachte.
Noch in der Luft hörte Lika die gebildete Sphinx fluchen.
„Wenn ich nicht untot wäre, hätte ich sie gleich aufgefressen, sie unverschämtes Weibsbild!“
Aber als Lika zurückblickte, saß Nexusarius Rembrandt Hannibal Pyronester Dunnjolf Perphalanx immer noch an der selben Stelle.
Ihr Plan schien funktioniert zu haben.

Aicyn sah von seiner Tätigkeit, Holzscheite in der Mitte des Hofes zu einem großen Haufen zu stapeln und mit Reisig zu verzieren auf, als er sah, wie Lika mit dem großen Vogel zurück kehrte und in der Nähe des Eingangstors landete. Er war milde eifersüchtig. Und hatte er nicht noch einen Ausritt in Bikini gut. Stattdessen musste er hier um sein Unleben stapeln... Er spitzte die Ohren und lauschte, um einige Satzbrocken aufzugreifen.

„Also gut, berichten sie, was sie berichten müssen, aber bitte nicht noch mehr Beamten. Sie wirkten das letzte mal doch eher... inkompetent.“, hörte er Lika zu Mr. Quirr sagen.
Ja, bloß keine Beamten. Die würden ihn am Ende noch austreiben – und das konnte wirklich nicht das sein, was die Ritterinnen wollten. Ach, wenn doch nur Thalia hier wäre...

Aber Thalia war nicht hier, sondern auf dem Weg ganz in den Norden des Landes. Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass Atis' Reiterschar sich an einem Ort aufhielt, zu dem sie schon lange eine Reise geplant hatte: Branding, die Schule der Magier. Da sich Hexen und Magier in früherer Zeit in die Haare gekriegt hatten (und die Magier nicht zugeben wollten, dass Hexen zu einer ebenso großen Magie fähig waren wie sie selbst), wurden männliche und weibliche Zauberlehrlinge getrennt unterrichtet. Anscheinend waren einige Egos bis heute noch zu groß, um diesen Graben zu überkommen. Stattdessen gab es so etwas wie einen Schüleraustausch, an dem Thalia allerdings nie teilgenommen hatte. Es waren ihre Nachforschungen bezüglich der früheren Oberhexe, die sie damals auf den Weg gebracht hatte vom Süden des Landes, wo die Hexenschule stand, doch die vorangegangenen Ereignisse hatten sie nie an ihr Ziel kommen lassen. Jetzt schien sie das Schicksal doch an diesen Ort zu führen. Besser gesagt:
Das Schicksal führte sie zu einem großen bewaldeten Gebiet, an dem jeder Tannenwipfel wie der nächste aussah. Sie ließ Arco weit über den Bäumen kreisen.
Nichts zu sehen von einem Schulgebäude, einer Burg oder einem Turm.
Nur eine dünne Rauchsäule in der Ferne, die von einer kleinen Hütte aufzusteigen schien.
„Das sieht doch viel versprechend aus, was meinst du, Churel?“
Ihr Phönix flatterte von ihrer Schulter auf und flog voran.
Sie wurde nicht enttäuscht. Als sie sich auf dem Waldpfad der Hütte näherte, stellte sich diese als eine Art Pforte heraus, an die sich ein großer Torbogen anschloss.
Der Pförtner saß hinter einem Glasfenster und wandte müde den Blick von seiner Zeitung. Er nickte ihr zur Begrüßung zu.

„Guten Tag. Hält sich ein gewisser Herr Atis mit seinem Reitertross auf Branding auf? Ich muss mit ihm sprechen.“, sagte die Hexe in dem freundlichsten Tonfall, den sie zustande brachte.

Der Pförtner nickte wieder.
„Name?“, sagte er dann mit kratziger Stimme.
Sie meldete sich mit ihrem Namen an und zeigte ihren Hexenring vor, den sie mit verlassen ihrer Schule als Beweis des erfolgreichen Abschlusses bekommen hatte.
Der Pförtner kniff die Augen zusammen, als er genauer auf das Schmuckstück schaute und sah dann zum Phönix auf ihrer Schulter.
„Haben sie irgendwelche magischen Waffen oder gefährlichen Kreaturen bei sich?“
Thalia dachte an den rostigen Löffel unter ihrer Bluse und an den Drachen, der sich in ihrer Kapuze versteckt hatte und antwortete mit blankem Gesichtsausdruck:
„Nein.“
Der Pförtner starrte sie noch einen Moment lang prüfend, fast feindselig, an und und machte dann ein sehr ekelerregendes Geräusch mit seinem Hals.
„Bin erkältet.“, erklärte er und deutete auf das Tor.
„Bitte schön. Ich sag' oben Bescheid.“
Thalia nickte, sagte „auf Wiedersehen“ und ging mit angehaltenem Atem durch das Tor.
Keine Sirene ertönte, sie wurde nicht zurückgeschleudert oder gefesselt. Irgendwie war sie etwas enttäuscht von den laschen Sicherheitsmaßnahmen. Dafür umwehte sie ein frostiger Wind, der ihr Gänsehaut bereitete. Die breite Anhöhe, die sich jetzt vor ihr eröffnete, lag unter tiefem Schnee verborgen, der vom Schloss auf dem oberen Ende, bis zum Tor an der Pforte reichte.

„Ich glaube es hackt!“, schnaubte Thalia wie eine Mutter beim Anblick des unaufgeräumten Kinderzimmers. Sie blickte an ihren Beinen herunter und musste feststellen, dass ihr sommerliches Schuhwerk ganz unter der Schneedecke verschwunden war. Einen Wutschrei ausstoßend schickte seine eine Flamme nach unten, die den Schnee schmolz. Jetzt hatte sie nasse Füße.
„Nein, nicht mit mir.“, grummelte die Hexe und pflückte sich heaven's cry vom Hals.
„Was ist nur aus dem guten alten „rettet unser Klima“ geworden?“ Aber Magier waren schon immer etwas größenwahnsinnig gewesen, weswegen sie sich gut vorstellen konnte dass eine kleinere Klimazonenverschiebung hier zum Stundenplan gehören könnte.
Aber zum Glück hatte sie ihre eigene Klimazone genau hier in der Hand. Sie pustete einmal kurz auf die klare Kugel am oberen Ende des Stabs und ein kleines Licht entzündete sich darin. Die Kälte verschwand, der Schnee ebenso. Thalia wandte gerade so viel Energie, dass ein kleiner Radius um sie von dem Winterzauber befreit wurde und sie jetzt trockenen und warmen Fußes den Hügel zum Schloss Branding erklimmen konnte.
Sie schaute zu dem weißen Gebäude mit dem normalerweise roten (jetzt vom Schnee weißen) Dach hinauf. Anscheinend war noch Unterricht, den sie durch ihr Aufkreuzen jetzt gehörig störte, denn als die Magierlehrlinge sie entdeckten, rannten sie zu den Fenstern ihrer Klassenräume um die Hexe mit ihrer kleinen Klimablase zu beobachten.
Thalia tat so, als würde sie die Schüler nicht beachten und stieg die Stufen zum Schloss hinauf und öffnete die schwere Eingangtür. Als sie quietschend hinter ihr wieder zu viel, war sie für einen Moment fast blind, denn im Innern der Einganghalle brannten kaum Kerzen und ihre Augen waren noch an den hellen Schnee gewöhnt. Als erstes verstaute sie heaven's cry wieder sicher an ihrer Kette, dann versuchte sie sich zu orientieren. Es war still hier und jeder ihrer Schritte hallte laut auf den schwarzen und weißen Fliesen wider, die ein kompliziertes Mandala bildeten. Während sie darauf wartete, dass jemand kam, um sie abzuholen, wanderte sie ein bisschen in der Halle umher. Zu beiden Seiten führten breite Treppen hinauf in die anderen Stockwerke. An der Wand gegenüber der Eingangstür zeigte eine Reihe hoher schmaler Fenster auf einen Innenhof, der allerdings im Moment im ganz im Schatten des hohen Gebäudes lag. Sie glaubte von dort leises Wiehern zu hören und trat an die Fenster heran. Sie waren so hoch angebracht, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um einen Blick hindurch zu werfen.
Ein Räuspern ließ sie schnell wieder auf ihre Fußballen zurück sinken. Sie drehte sich schnell um und nahm Abstand vom Fenster.
Der Mann hatte es geschafft, sich ihr völlig lautlos zu nähern...
Vor Thalia stand ohne Frage ein Lehrer dieser Fakultät. Schlank, hochgewachsen und mit einer klassischen, tiefblauen Robe bekleidet, die Hände hinter dem Rücken ineinander verschränkt, nickte er ihr zu. Sein schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen wirkte streng und dass er seinen dunkelbraunen Bart sehr kurz gestutzt hatte, wies ihn einer modernen Strömung der magischen Kunst zu.

Er stellte sich nuschelnd mit einem Namen vor, den Thalia nicht ganz verstand und deshalb sofort wieder vergaß. Als sich ihre Ohren durch diesen ersten Satz auf seine Stimme eingestellt hatten (er sprach außerdem sehr leise und fließend, seine Stimme hatte einen fast singsangenden Ton – Thalia taten die Schüler Leid, die seinen Unterricht wach überstehen mussten), konnte sie ihm folgen.
„Haben sie sich eben an der Pforte angemeldet?“ Thalia nickte auf seine Frage hin und stellte sich ebenfalls vor.
„Herr Atis hat gleich eine Besprechung mit dem Herrn Kanzler, der sie auch sehr gerne kennen lernen würde. Wenn sie möchten, können sie gerne an der Besprechung teilnehmen.“
Die junge Hexe, die erst vor kurzem ihre Schule verlassen hatte, nahm die Einladung etwas verunsichert an. Es war seltsam, von einem Lehrer wie ein offizieller Gast und nicht nur wie ein Schüler behandelt zu werden.
„Ich führe sie zu seinem Büro.“ Der Lehrer winkte sie mit langem Finger hinter sich her die linke Treppe hinauf.
„Wir bekommen nicht oft solch unangekündigten Besuch.“
Obwohl er vor ihr ging und ihr den Rücken zugewandt hatte, hatte Thalia keine Probleme, diesen Satz, in dem ein winziger Hauch eines Vorwurfs mitschwang, zu verstehen.
„Es war auch für mich eine kleine Überraschung.“, entschuldigte sich Thalia.
Sie schritten einen leeren, mit einem purpurroten Teppich ausgelegten Gang entlang. Ein Schüler in einer mausgrauen Robe kam ihnen entgegen, warf Thalia einen neugierigen Blick zu und huschte schnell in sein Klassenzimmer zurück. Es war erdrückend still.
„Aber Herr Atis erwartet ihren Besuch?“
Der nächste Vorwurf.
„Nicht direkt.“, gab Thalia mit einem entschuldigenden Lächeln zu, das er nicht sah.

Magier. Magier machten Pläne. Den ganzen Tag saßen sie da und planten. Sie schüttelten bei nicht überdachtem Vorgehen nur den Kopf. Thalia konnte vor ihrem inneren Auge sehen, wie dieser Obermagier da regelrecht mit den Ohren schlackerte, vor so viel Unüberlegtheit. Sie hatte sich geirrt. In seinen Augen war sie kein Gast, sondern eine Unwägbarkeit, die er jetzt irgendwie in seinen Masterplan des heutigen Tages einbauen musste. Gut, dass sie Churel draußen gelassen hatte. Bei dem ganzen Unbehagen, das sich gerade bei ihr aufstaute, hätte der Phönix am Ende noch instinktiv einen Angriff gestartet...
Der Magier führte sie durch ein Portal nach dem anderen, bis sich ihr Orientierungssinn komplett von ihr verabschiedet hatte. War sie überhaupt noch in Branding?
Ein kurzer Blick aus dem Fenster sagte ihr, dass sie es nicht war. Statt Schnee und Wald sah sie das offene Meer. Außerdem waren die Wände hier gekrümmt, so dass sie vermutete, sich in einem runden Turm zu befinden.
Endlich hielten sie vor einer dunklen, massiven Holztür an, an die ihr Empfangskomitee so leise anklopfte, wie er auch sonst alles andere tat. Auf das leise Anklopfen ertönte ein kräftiges
„Ja! Hereinspaziert!“ aus dem Inneren des Raumes.
Das war eindeutig die Stimme des Rektors. Thalia hatte nur einmal indirekten Kontakt mit dem Kanzler von Branding gehabt, als er im Rahmen des Schüleraustauschs ihre Schule besucht hatte und nichts hatte sich von ihm so bei ihr eingeprägt wie seine Stimme.
„Ah, Vizekanzler!“, hörte sie ihn sagen, sobald der Mann, der sie geführt hatte, die Zimmertür öffnete.
„Ihr Gast vom Eulennest.“, erklärte er und ließ Thalia an sich vorbei ins Zimmer.
Hurra. Missverständnis. Jetzt dachte der Rektor, sie wäre von ihrer Schule geschickt worden...
„Guten Tag, Professor Norwyck.“
Thalia betrat das Büro des Rektors und nickte zur Begrüßung. Immer nicken – Magier und Hexen schüttelten sich nicht die Hände bei der Begrüßung – zu oft war dies mit unlauteren Absichten verbunden gewesen und hatte zum Tod eines allzu unbedarften Magiers geführt. Auch hier stellte sie sich ein weiteres Mal vor und nahm dann auf einem überaus bequemen, geblümten Sofa Platz. Das Zimmer sah für Magierverhältnisse sehr normal eingerichtet aus – nur eine Sitzgruppe gemütlicher Möbel um einen runden, niedrigen Tisch herum, auf dem Tee und Kekse bereit standen. Ein Flügel des großen Fensters war geöffnet, so dass Thalia jetzt anstatt Pferdewiehern Möwengeschrei hören konnte. Professor Norwyck war schon sehr alt, wie sie wusste, aber er gehörte zu der Sorte Menschen, die nicht älter, sondern besser wurden. Sein zerfurchtes, breites Gesicht war von einer außerordentlichen Güte geprägt.
Er setzte sich Thalia gegenüber in einen senfgelben Ohrensessel und lud auch den Vizekanzler ein, ihnen noch etwas Gesellschaft zu leisten, was dieser nach einem kurzen Zögern auch tatsächlich tat.
„Also, Thalia, ich bin sehr gespannt. Wie geht es der alten Seraphine?“
Die Frage erstaunte Thalia. Sicherlich war der Amtswechsel an ihrer Hexenschule nicht unbekannt geblieben? Dann wusste der Rektor noch gar nichts vom Duell zwischen der alten Rektorin und ihrer Herausforderin?
Thalia setzte die Teetasse ab. Sie musste auf die beiden Männer angespannt wirken und sie hatte auch jeden Grund dafür.
„Professorin Seraphine.... ist gestorben. Schon im Frühjahr. Hat euch diese Nachricht noch nicht erreicht?“
Die Hexe beobachtete, wie der Rektor erbleichte.
„Nein, ich muss zugeben, dass ich noch nicht davon gehört.... das ist kein schlechter Scherz oder?“
Thalia schüttelte langsam den Kopf und begann, Professor Norwyck von den Geschehnissen im Mai dieses Jahres zu berichten.
„Seraphine war nicht mehr die Jüngste, also hatte sie schon vor einigen Jahren Duellzeit ausgerufen, um eine Nachfolgerin zu finden.“
Die Oberin des Eulennestes wurde schon seit der Gründung nach dem Prinzip eines magischen Duells bestimmt. So sollte sichergestellt werden, dass nur die fähigste Hexe das Amt erhalten sollte, ungeachtet ihrer Herkunft, ihres Einflusses oder ihres Reichtums.

„Nachdem die Monate zuvor eine regelrechte Bewerbungsflaute geherrscht hatte, tauchte im Mai diese fremde Hexe auf, die ihren wahren Namen verschwieg und sich nur „Primavera“ nannte.“

Professor Norwyck kratzte sich am Kopf.
„Ich muss zugeben, dieser Name sagt mir überhaupt nichts.“
„Auch niemand an der Hexenschule kannte diese Frau. Auch nicht Oberin Seraphine. Da ich damals ihre einzige Meisterschülerin war, vertraute sie mir ihre schlechte Ahnung an und bat mich, Sie vor dieser Frau zu warnen. Sie sagte, diese Frau wirke unerfreulich nach dem Staub, der vor 50 Jahren aufgewirbelt worden war, aber wollte mir nicht erklären, was das bedeutete. Wissen sie, was sie damit meinte?“
Professor Norwyck schien tief in Gedanken versunken zu sein, bis er seine Augen aus dem Nichts heraus wieder auf Thalia richtete und sagte:
„Aber wie starb die gute Seraphine denn nun?“

Eine einfache Antwort wäre auch zu viel verlangt gewesen, dachte Thalia. Bescheuerte Geheimniskrämerei.
„Das Duell begann ganz normal.“, fuhr sie fort, „Wie sie es auch bei den Herausforderinnen zuvor getan hatte, steigerte Professor Seraphine die Schwierigkeit der Angriffe graduell, um herauszufinden, wie gut ihr Gegner tatsächlich war, aber sie nie einen Zweifel aufkommen, wer tatsächlich das Duell dominierte. Die Herausforderin machte lange Zeit mit und es war wirklich beeindruckend, den beiden zuzusehen. Bis auf einmal „Primavera“ verkündete, sie hätte nicht länger Lust, mit einer alten Greisin zu spielen. Sie würde sie nun in ein Huhn verwandeln und diesen Kampf beenden.“
Thalia erinnerte sich noch genau an diese Situation. Sie war am Rande des Ringes bei den Lehrerinnen gestanden, von denen keiner diesen arroganten Ausruf positiv aufgenommen hatte. Man kündigte in einem Duell einfach nicht seinen nächsten Schritt an.
„Ich verstehe.“, schaltete sich Professor Norwyck ein, „Sie drohte mit einem Zauber, um dann einen anderen einzusetzen. Was hat sie stattdessen gemacht?“

„Sie hat die Professorin in ein Huhn verwandelt. Sobald die Verwandlung vollständig war, fiel die Oberin tot um.“

Professor Norwyck starrte Thalia mit ungläubig aufgerissenen Augen an.
„Der Verwandlungszauber wurde durchgeführt, ohne die Altersvariable zu beachten.“, schloss Thalia ihren Bericht.
Bei Verwandlungen von Menschen in Tiere war die Altersvariable zu bedenken.
Wurde man bei seinem Verwandlungsbefehl nicht konkret, indem man das Alter festlegte, das die Tierform haben sollte, wie zum Beispiel „werde ein zweijähriger Hund!“, behielt der Verwandelte sein menschliches Alter bei.
Im Falle von Professorin Seraphine war dadurch ein zirka siebzigjähriges Huhn entstanden, welches sofort an Herzversagen gestorben war.
Professor Norwyck fuhr sich nachdenklich mit den Fingern durch den Bart.
„Ein interessantes Täuschungsmanöver.“, sagte der Vizekanzler, „Keiner erwartet, dass man seine Ankündigung in solch einer Situation tatsächlich wahr macht.“
Der Kanzler schüttelte den Kopf. „Seraphine war keine Hexe, die sich so leicht austricksen ließ. Aber vielleicht war ihre Zeit tatsächlich gekommen.“
Thalia sprang erbost von ihrem Sessel auf.
„Seraphine hat keinen Fehler gemacht! Ich war dabei. Ihre Abwehr war perfekt. Irgendetwas kann nicht mit rechten Dingen zugegangen sein – sie müssen mir glauben!“
Der Kanzler gebot ihr mit einer Handgeste sich wieder zu setzen.
„Ich kann mein Urteil nicht allein anhand deiner Darstellung fällen, Thalia. Das verstehst du hoffentlich?“
Thalia setzte sich. An diesem Satz war etwas dran. Wenn sie ihre Urteile so fällen würde, wäre sie jetzt nicht hier.
„Wie haben die Lehrer dieses Ergebnis aufgefasst?“
„Die Lehrerinnen haben die Siegerin angenommen, wie es in der Gründungsurkunde vom Eulennest festgelegt wurde.“, grummelte Thalia und ließ sich zurück in den Sessel fallen.
„Dann muss ich dem Eulennest demnächst einen Besuch abstatten und mich beschweren, dass man mich nicht über den Tod meiner lieben Freundin Seraphine in Kenntnis gesetzt hat. Könntest du das dort ausrichten?“
„Ich fürchte, Nein.“, sagte Thalia und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Ich habe die Schule kurz darauf mit meinem Abschluss verlassen und plane nicht, dorthin zurückzukehren.“
„Aber hast du nicht für das Eulennest am großen Turnier teilgenommen?“, wunderte sich Professor Norwyck.
„Teilgenommen ja. Aber nicht im Namen der Schule.“
„Tatsächlich? Der Vizekanzler war dort mit einigen Schülern. Der Lehrerschaft ist es ja nicht gestattet beim Turnier im Ring zu kämpfen, aber für die Schüler ist es immer ein sehr besonderes und prägendes Erlebnis.“
Der Professor schien froh darüber, das Thema wechseln zu können und redete munter los.
Der Vizekanzler stützte gelangweilt das Kinn auf eine Hand.
„Dieses Mal war das jüngste Talent seit langem dabei. Ein viel versprechender Schüler. Wie ist noch mal sein Name?“
„Lignus Belltiel, Sir.“, half der Vizekanzler auf, ohne den Kopf zu heben.
„Der kleine Lignus, genau. Ich hoffe, er ist nicht zu enttäuscht, gleich in der ersten Runde verloren zu haben...“
„Das glaube ich nicht.“, sagte Thalia und schmunzelte. Der Knirps war ihr schließlich die ganze Zeit am Rockzipfel gehangen.
„Wie ist es dir beim Turnier ergangen?“, fragte der Rektor plötzlich aus dem Nichts heraus und Thalia verschluckte sich an ihrem Tee.
Zum Glück klopfte es da an der Tür und Atis und seine Delegation, bestehend aus dem Herold, dem General und einem Schreiber kamen herein.
Eine große Begrüßungswelle zwischen Professor Norwyck, dem Nomadenkönig und den anderen Gästen brach los. Thalia machte sich auf ihrem Platz klein bei dem um sie herum erschallenden Männergelächter. Sie tauschte kurz Blicke mit dem Vizekanzler, der genau so unbegeistert dreinschaute wie sie, und nahm sich lieber einen weiteren Keks, bevor der Professor plötzlich sie als Überraschungsgast vorstellte. Thalia würgte schnell das trockene Buttergebäck herunter und sprang auf, um dem König die Hand zu schütteln.
„Ich hätte nicht gedacht, dass eine Ritterin zu uns kommen würde. Wir sind noch nicht bereit, den Stab wieder an uns zu nehmen. Ehrlich gesagt sind wir deshalb hier her gekommen, in der Hoffnung, dass uns die ehrwürdigen Magier dieser Schule ein passendes Behältnis für den mächtigen Stecken zur Verfügung stellen können, das in der Lage ist, ihn zu beherbergen, damit er nicht wieder... ungefragt auf Reisen geht!“, sagte König Atis, lachte laut und schallend und zerquetschte Thalias Hand.
„Ich bin auch gar nicht hier, um euch den rostigen Tauchsie – ich mein, euren Stab, erneut zu überreichen, sondern...“ Thalia seufzte,
„Ehrlich gesagt. Wir hatten eine Begegnung mit eurer Nichte. Mal wieder.“

Das Grinsen in des Königs Gesicht erfror.


„Oh.“
„Sie hat uns mit einigen Hintergrundinformationen gefüttert.“
„Oh...“
„Nachdem sie versucht hat uns zu ermorden und daran gescheitert ist.“

König Atis schwieg nur noch betreten.
Professor Norwyck zog die Augenbrauen hoch und schaute von Hexe zu König. In nur wenigen Sätzen hatte Thalia es geschafft, diesen Mann zur Kapitulation zu bewegen.
Sie berichtete alles, wie auch sie es berichtet bekommen hatte, während Atis nervös mit den Zeigefingern auf die Rücken seiner gefalteten Hände tippte, harrend der Fakten, die über ihm ausgeschüttet wurden.
„Und nachdem ich jetzt weiß, dass der sogenannte Krieg, für den ihr den Tauchsieder haben wolltet, sich vor einem halben Jahrhundert zugetragen hat, frage ich mich, was ihr stattdessen damit vorhabt.“, schloss die Hexe und blickte den König fordernd und ohne auch nur zu blinzelnd an, während seine Männer immer unruhiger wurden. Während der Schreiber abwartend an seiner Feder kaute, blickte der General nervös zum König und der Herold zog seine Stirne immer weiter kraus, als wollte er gleich herausplatzen und diesem unverschämten Weibsbild eine Erinnerung an den Kopf werfen, mit wem sie es zu tun hatte!
„Ich muss mich für das Verhalten meiner Nichte entschuldigen.“, sagte Atis kleinlaut.
Der Herold schnaubte.
Thalia schnaubte auch.
„Allerdings hat sie euch nicht angelogen, sondern bei allem die Wahrheit gesagt.“, fuhr der König fort.
„Damit sollte ich jetzt vielleicht auch anfangen.“
Er räusperte sich noch einmal und setzte sich aufrecht auf seinen Stuhl.
„Wir brauchen den Stab, weil er uns den Weg zurück in unsere Welt zeigen kann. Wir wollen nach Hause. Das Volk hat lange genug unter der Schmach des ASN gelebt und sehnt sich endlich nach Freiheit. Ich verstehe, dass ihr Frauen auf der Burg damit wenig sympathisieren könnt. Deshalb möchte ich euch nicht weiter in die Angelegenheiten meines Volkes verwickeln.“
„Dafür ist es jetzt jawohl eindeutig zu spät.“, erwiderte Thalia und Atis verzog die Mundwinkel.
„Erstens – es ist Irrsinn, dort drüben das Land neu aufbauen zu wollen. Falls Calla es euch noch nicht gesagt hat: Es ist jetzt eine Schneewüste. Zweitens: Wenn der Stab euch den Weg in eure Welt zeigt und von selbst zu unserer Burg zurückkehrt, ist das wohl eindeutig ein Zeichen dafür, dass der Durchgang dort liegt. Aber der Durchgang ist versperrt. Ihr mögt vielleicht glauben, dass die Bedrohung von vor 50 Jahren jetzt nicht mehr gegeben ist, aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß, dass sich dieses Drama noch einmal wiederholt. Und drittens: Solltet ihr vielleicht langsam in Erwägung ziehen, Euch von uns Ritterinnen helfen zu lassen. Und dafür -“
Sie zog das Buch der Königin aus ihrer Umhängetasche, „brauchen wir eure Hilfe.“
Thalia schob ihre Tasse beiseite und legte den schweren Kodex auf den Tisch.

Sobald Atis das Buch erkannte, lehnte er sich gegen die Stuhllehne. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass der König möglichst viel Abstand dazu einnehmen wollte.
„Das hättet ihr nicht mitbringen sollen. Ich habe dieses Buch Calla gegeben, damit es in der alten Burg bleibt. Wir können hier nichts damit anfangen. Es könnte höchstens in die falschen Hände geraten.“
„Jetzt machen sie mich aber neugierig!“, schaltete sich Professor Norwyck ein, „Was hat es damit auf sich?“
König Atis lud den Magiermeister dazu ein, sich den Kodex genauer anzuschauen.
Scheinbar waren seine Hände nicht die falschen.
„Dieses Buch hat unser Volk durch die Jahrhunderte geleitet, indem eine Person, die mit der Hand Gottes schrieb, uns die prophetischen Weisungen festhielt. Nur derjenige, der Verbindung mit der Schöpfungsebene aufnahm, konnte diese Weisungen lesen und Übersetzen. In diesem Buch sind die Geschichte und das Schicksal unseres Volkes festgehalten, aber auch, wie den Waffen ihre Kräfte übertragen werden. Seitdem wir unsere Welt verlassen haben, ist es aber nicht mehr gelungen, Kontakt mit der Schöpfungsebene aufzubauen, so dass dieses Wissen für uns versiegt ist. Wir wissen, dass die Waffen nur zwei Generationen lang ihre Kräfte behalten. Wenn diese Generation Ritterinnen stirbt, wird die Kraft der Vorgängerin verloren sein, während keine neuen Kräfte übertragen werden können. Das heißt, dass in der nächsten Ritterinnengeneration die Kräfte aufgebraucht werden.“
„Und es ist noch keiner auf die Idee gekommen, diese „göttlichen Weisungen“ in eine lesbare Sprache zu übersetzen?“, meldete sich Professor Norwyck, der noch immer sehr interessiert die dicken Papierseiten umblätterte.
„Die Weisungen sollen nicht von allen gelesen werden können. Es ist ein Sicherheitsmechanismus. Sobald ein Mensch Verbindung mit der Schöpfungsebene aufgenommen, verlässt ihn die Stimme und er kann nur noch im Stummen lesen. Nach dem Lesen hat er zwar das Wissen, aber nur die vage Fähigkeit, dieses Wissen weiter zu geben.“
Professor Norwyck hielt das Buch mit ausgestreckten Armen von sich weg und drehte es um neunzig Grad.
„In diesem Buch müssen wahre Wunder beschrieben sein, wenn ihr die Wahrheit sagt – zu dumm dass auch ich kein Wort verstehe.“
„Aber das Buch existiert!“, war Thalias energischer Einwurf, „Die Wissensvermittlung könnte auch auf andere Art und weise stattfinden können, aber dass ein Buch existiert, bedeutet, dass es für Kommende aufgeschrieben wurde. Es muss also auch für uns oder irgendjemanden von uns möglich sein, sich mit dieser Ebene zu verbinden und die Informationen erneut zu erhalten.“
Norwyck nickte eifrig.
„Deshalb, das müsst auch ihr jetzt verstehen, ist es so wichtig für uns, in unsere Welt zurück zu kehren.“, wiederholte Atis noch einmal und ballte eine Hand zur Faust.
„Oder“, seufzte Thalia, „das bedeutet, dass die Waffen ihre Kräfte verlieren sollen und dass ihr nicht in eure Welt zurück kehren sollt sondern hier in Frieden leben. Diese Welt braucht einfach keine Ritterinnen mehr.“
„Jetzt sind wir wirklich dem Untergang geweiht!“, schnaubte der Herold.
„Eine Ritterin, die nicht an ihren Zweck glaubt.“
„Ich HABE einen Zweck.“, sagte, Thalia zornig.
„Ich brauche kein theatralisches Heldenschicksal, um einen Zweck im Leben zu haben. Ich muss nicht herumrennen und versuchen die Welt zu retten, nur damit ich mich toll fühlen kann.
Ist euch vielleicht schon einmal in den Sinn gekommen, dass deswegen heute keiner mehr das Buch lesen kann, weil eurer Volk einfach nicht gerettet werden muss? Habt ihr mal eine Volksbefragung gemacht? Vielleicht fühlen sie sich ja wohl hier, in diesem Bürokraten- Staat!“
Atis erhob sich. Er sah nicht glücklich aus.
„Die Hellseherin Karmesin hat uns zwei Dinge prophezeit: dass neue Ritterinnen erwählt werden und dass uns Gefahr droht. Ich werde nicht mit einer Frau diskutieren, die zwar selbst Teil dieser Prophezeihung ist, aber trotzdem nicht an die andere glaubt.“
Der König nickte seinen Männern zu, die sich erhoben und zur Tür gingen.
Thalia realisierte, dass sie sich so in Rage geredet hatte, dass ihre Absicht verkehrt worden war: Sie wollte dem König deutlich machen, dass es keine gute Idee war, den Durchgang zu der anderen Welt zu öffnen. Schnell sprang sie auf, um ihren Fehler wieder gut zu machen.
„Die Prophezeihung ist doch gerade der Punkt!“
Doch Atis hatte die Tür schon aufgerissen. Es gab einen dumpfen Schlag und ein Poltern.
Ein leises Stöhnen von jenseits der Tür sagte der Hexe, dass da jemand den Fußboden geküsst hatte.

Ein Magierlehrling, der gerade am Anfang des Teenageralters stand, saß auf den Fliesen und entwurstelte seine Robe. Sein deutlich über-gewichtiger dsungarischer Zwerghamster mit dem klangvollen Namen Galactoglucomannan war daraus hervorgepurzelt und strampelte jetzt mit dem Rücken auf dem Boden liegend mit allen Vieren, um wieder auf die Beine zu kommen. Sein Besitzer schaffte es schneller als er und schnappte ihn vom Boden auf, damit König Atis, der im Vergleich zu dem schmächtigen Jungen eine bedrohliche Erscheinung abgab, nicht darauftreten konnte.
„Ich habe nicht gelauscht!“, fühlte sich der Magierlehrling gleich zu einer Verteidigung gezwungen und machte sich verdächtig,
„Ich habe nur hier draußen gewartet, bis sie fertig sind, weil ich...
Hallo Thalia.“, sein Bedauern über den vermasselten Auftritt ließ seine Begrüßung etwas kläglich klingen. Der Knirps hatte Thalia entdeckt, die sich zwischen den Männern des Reitervolks vorgeschoben hatte, um auch etwas mitzubekommen.
„Hallo, Lignus...“, seufzte Thalia. Manchmal verstand sie die Magier und ihren Masterplanzwang. In Momenten wie diesen, in denen kleine, übereifrige Nervensägen auftauchten, für die man gerade weder Zeit noch Nerven hatte.
„Lignus, dein Wissensdrang und deine Neugierde sind wieder einmal ausgesprochen herausragend!“, sagte der Rektor, der sich mit dem Vizekanzler ebenfalls erhoben hatte. Thalia konnte vom Klang in seiner Stimme nicht ausmachen, ob das ein Lob oder ein Tadel gewesen war.
„Das ist jetzt nicht so wichtig. Wir waren gerade fertig.“, verlautete König Atis und klang immer noch recht theatralisch in seinem Stolz verletzt.
Thalia rollte mit den Augen.
„Aber, aber!“, ging Professor Norwyck dazwischen und steckte Thalia das Buch wieder zu, „Wollten wir nicht zusammen eine Lösung für ein Behältnis ihres Artefakts suchen? So wie es scheint, brauchen sie beide einander bei ihrem Unternehmen...“, er deutete zwischen König und Hexe hin und her, „... wie wäre es, wenn ich ihnen erst einmal das Projekt der ersten Oberklasse präsentiere, um das Vertrauen in unsere Fähigkeiten zu stärken?“
Der König sah unschlüssig zwischen den Anwesenden hin und her, nicht mehr so sicher, ob er tatsächlich so schwer beleidigt worden war.
„Na also! Mir nach, bitte.“
Professor Norwyck quetschte sich zwischen allen hindurch an die Spitze der Gruppe, die sich mehr oder weniger begeistert in Bewegung setzte. Den Abschluss machte der Vizekanzler, um sicher zu gehen, dass keiner sich zwischendurch verselbständigte.
Thalia sah sich jetzt an der Seite von Lignus, der sein peinliches Erscheinen scheinbar schon wieder fast vergessen hatte, jedenfalls begann er aufgeregt und in Flüsterton auf sie einzureden.
„Das Schneekugelprojekt der Oberklasse ist schon ziemlich cool, hast du ja gesehen, als du hergekommen bist – aber wie hast du das gemacht, mit dieser Blase in der du das Klima verändert hast, das war so was von MEGACOOL-“

„Solltest du im Unterricht nicht aufpassen, anstatt aus dem Fenster zu schauen? Und überhaupt – hast du nicht noch Unterricht?“, antwortete die Hexe kalt, was Lignus allerdings nicht ausbremste.
„Ich hab dem Lehrer gesagt, dass ich aufs Klo muss. Sag mal wo hast du denn Churel? Ist der nicht mit?“
Ein lautes Seufzen entfuhr Thalia.
„Ja, der Weg ist etwas weit, das muss ich zugeben“, sagte Professor Norwyck, der sich angesprochen fühlte, da er nichts von der vorherigen Unterhaltung mitbekommen hatte,
„Aber trotzdem bin ich sehr stolz auf unser Portalsystem. Unsere Schule beherbergt eine Reihe wertvoller und gefährlicher Artefakte. Sollten ungebetene Gäste einmal vorhaben, sich davon etwas unter den Nagel zu reissen, kommen sie nicht sehr viel weiter als bis zur Eingangshalle.“
In der sie jetzt ankamen.
Da der Unterricht vor fünf Minuten zu Ende gegangen war, waren die Gänge jetzt von Schülern bevölkert, aber so ein Auflauf in der Eingangshalle war eher ungewöhnlich. Selbst die Treppenaufgänge waren von Schülern belagert, so dass ihre Gruppe unvorhergesehen zum Halten kam.
„Was ist denn hier los?“, erhob der Kanzler die Stimme.

Als die Schüler die Stimme des Rektors erkannten, machten sie ihm Platz, so dass der Blick auf die Eingangshalle frei wurde.
Ein gutes Dutzend Männer mit orangefarbenen Sicherheitswesten, schweren Stiefeln und schwarzen Lederhandschuhen an den Händen stand dort. Einer von ihnen unterhielt sich mit einem Lehrer.
„ASN Schergen.“, schnaubte König Atis und Thalia bekam sogleich ein mulmiges Gefühl.
Noch während der Rektor die Stufen hinunterstieg, um mit der ASN-Einheit zu reden, erhob der König erneut die Stimme.
„Was haben wir dieses Mal wieder getan, was dem ASN nicht gepasst hat? Zu schnell mit den Pegasoi geflogen vielleicht?“
Der Typ mit der Sicherheitsweste, der sich bisher mit dem Lehrer unterhalten hatte, wurde hellhörig.
„Es ist interessant, dass sie scheinbar selbst davon überzeugt sind, dass wir wegen ihnen gekommen sind, Herr Atis.“, richtete der Mann sich jetzt direkt an den König, „Aber sie irren sich. Dieses Mal sind wir nicht wegen ihnen gekommen.“


Oben auf der Treppe reckte Lignus seinen Hals, um auch etwas zu sehen. Plötzlich spürte er, wie etwas Gewichtiges gegen seinen Bauch gedrückt wurde und griff reflexartig mit den Armen danach. Er hielt Thalias Reisetasche in den Händen, die sie ihm wortlos hingeschoben hatte. Erstaunt blickte er zu der Hexe hinauf, doch sie sah nicht zurück sondern hatte die Szene am Fuße der Treppe im Visier. Wenn man von ungebetenen Gästen sprach. Während der Vizekanzler damit beschäftigt war, zu versuchen, die Schüler aus der Halle zu scheuchen, offenbarte der ASN – Mann den Grund ihrer Anwesenheit.
„Wir sind gekommen, um eine Hexe zu verhaften, die ohne offizielle Erlaubnis ihre Künste ausübt.“

Thalia, die in dem Haufen junger Kerle und gelehrt wirkender Männer herausstach wie ein grüner Apfel in einer Tomatenkiste nahm sich ein Herz und trat vor.
„Ich schätze, ich bin im Moment die einzige Hexe hier.“, sagte sie, als sie am Fuße der Treppe angelangt war. Dass Professor Norwyck an ihrer Seite stand, beruhigte sie einigermaßen. Aber etwas anderes war ihr eine bessere Versicherung. Sie hob die Hand, an der ihr Meisterschaftsring des Eulennestes steckte.
„Allerdings habe ich eine Lizenz.“

Der Mann des ASN trat vor sie. Er hatte eine unangenehm bleiche Hautfarbe und beugte sich unangenehm nah zu der Hand herüber. Dann packte er ungefragt ihr Handgelenk und zog sich den Ring direkt vor die Nase. Er betrachtete das Siegelbild einen Moment stumm. Aus den Augenwinkeln sah Thalia, wie die Männer hinter ihm näher kamen.
Schließlich senkte er seinen Arm, ohne ihr Handgelenk wieder los zu lassen.
„Ich fürchte, diese Lizenz ist ungültig. Die Leiterin der Hexenschule, Professorin Primavera, hat die in diesem Jahr vergebenen Meisterringe als unzulässig erklärt. Sie hatten bis Juli Zeit, ihre Prüfung nachzuholen und eine neue Hexen - Lizenz zu erwerben.“

„Der Brief muss wohl auf dem Weg zu meiner neuen Wohnung verloren gegangen sein.“, sagte Thalia durch zusammengebissene Zähne hindurch und riss sich aus dem Griff des Mannes, der jetzt mit einem Lächeln nickte.
„Das ist leider nicht unser Problem. Frau Thalia, sie werden ihrer Erklärungen dem Richter vorbringen können.“
„Das ist ein bisschen harsch, finden sie nicht?“, warf Professor Norwyck ein und wurde sofort von dem Beamten fixiert.
„Wir handeln nur nach Vorschrift, Sir. Ich bin mir sicher, auch ihre Fakultät hat Vorschriften?“
„Ja durchaus, allerdings-“

„Gut.“, würgte der Mann in der Sicherheitsweste den Professor ab, „Wir entschuldigen die Unannehmlichkeiten.“
Die Männer hatten den Kreis um Thalia geschlossen. Die Halle war noch immer voll von Schülern und Lehrern, die aufgeregt durcheinander redeten.
„Ich möchte mit ihrem Chef sprechen.“, sagte Thalia ruhig.
Entsetzt sah sie, wie sich auf dem Gesicht des bleichen Kerls ein selbstgefälliges Lächeln bildete.
„Ich habe im Moment keinen Chef, mit dem sie sprechen könnten, meine Teure.
Bitte sparen sie sich die Anstalten und kommen sie ohne Widerstand mit uns. Ich bin mir sicher, dass sie dem Professor hier ersparen wollen, dass seine Schule wegen ihrer Anwesenheit negative Schlagzeilen macht.“
Thalia blickte prüfend Professor Norwyck an, der stumm nickte. Sie sah in seinen Augen, dass er auf ihrer Seite war, aber seinen Schülern einen Kampf ersparen wollte.

Thalia verschränkte die Arme vor der Brust.
„Bitte, wir können gehen.“

So hinterließ Thalia sowohl im Betreten wie auch im Verlassen des Gebäudes einen bleibenden Eindruck bei den Magiern von Branding. Für eine Verhaftung war sie allerdings nicht gekommen.

42 Sie wurde WAS?!


Sie wurde WAS?!


"Hey Bonny! Jetzt hör' auf die Akte zu lesen und konzentriere dich aufs Fliegen!"
Adarwen war so auf das Lesen konzentriert gewesen, dass sie es übersah, ihren Spitznamen zu bestrafen und Lapis einen mit Eversun herunterzuhauen. Wie gut es doch war, eine Lichtquelle im Dunkeln zu haben.
"Der Drache fliegt. Was soll ich da noch machen? Er will nach Hause so wie wir auch. Kann ja nichts schief gehen", antwortete sie ohne Gemütsrührung und blätterte um.
"Du wirst die Akte noch runterfallen lassen", sah es der gesuchte Terrorist schon kommen.
Im Gegensatz zu Adarwen konnte er nichts sehen, denn es war stockfinstere Nacht geworden. Er hörte nur, wie die Blätter der Akte im Wind flatterten und das beunruhigte ihn. Onyx dagegen war genug damit beschäftigt hinunter auf die Erde zu schauen und von der Beleuchtung der Städte begeistert zu sein. Dann kam die Küstenlinie in Sicht und es wurde noch dunkler.
"Wir sind bald da", antwortete Adarwen.
"Das habe ich nicht gefragt! Steck die Akte weg!", war Lapis hartnäckig.

Sie seufzte. Der Mann nervte. Hatte er immer noch nicht kapiert, dass er hier nichts zu melden hatte? Ob Condor auf sie hören würde, wenn sie ihn zum Sturzflug auffordern würde? DAS würde Lapis vielleicht überzeugen!
Stattdessen flog der Drache direkt in eine Wolke hinein und sie war plötzlich blind. Nicht nur das, in kürzester Zeit war sie zusätzlich tropfnass.
Sie sah auf das Papierbüschel, das jetzt an ihrer Hand klebte.
"Mist."
Sie ließ es schleunigst wieder im Hängeregister verschwinden und verstaute es in ihrer Tasche.
Hoffentlich waren keine Tinten verlaufen.
Der Drache ging in den Sinkflug. Ein Zeichen, dass sie bald an der Burg waren.
Er verlangsamte die Geschwindigkeit und glitt lautlos über den Wald, der heute besonders schweigsam war. Onyx beugte sich weit über den Rand des Drachenrückens als hätte er da unten etwas entdeckt. Die plötzliche Gewichtsverlagerung ließ den Drachen ins Schwanken kommen.
"Onyx könntest du das lassen? Meine Beine halten viel aus, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie einen Sturz aus dieser Höhe überstehen könnten!"
"Mh-mh.", murmelte Onyx, setzte sich brav wieder gerade und hielt sich an seinem Vordermann fest. Genau rechtzeitig, denn jetzt setzte Condor zur Landung auf dem Vorplatz der Burg an.


"Adarwen, seid ihr das?"
Aus der Dunkelheit schälte sich Lika heraus. Sie war mit einer Petroleumlampe und einem leeren Eimer unterwegs. Der Drache kam geradewegs auf sie zugelaufen um sie zu begrüßen. Liebevoll knabberte er an der Kapuze ihrer Regenjacke.
"Ihr seid ja ganz nass....", kommentierte sie, bevor Adarwen etwas sagen konnte.
"Dein Drache will wohl, dass wir uns erkälten", grummelte Lapis.
Lika strafte Condor mit einem bösen Blick, welchen er allerdings gekonnt übersah.
"Und was machst du hier mit einem Eimer?", sprach da Adarwens Neugier durch die Ritterin.

Lika seufzte.
"Wir legen einen Aschekreis. Sind fast fertig. Es ist einiges passiert in eurer Abwesenheit. Kommt rein und zieht euch erstmal um, dann werde ich euch auf den neuesten Stand bringen."
Sie geleitete die Gruppe durch das Haupttor herein, neben dem gerade der Zentaur den letzten mit Asche gefüllten Eimer leerte, um eine Spur mit dem Inhalt zu legen. Gerade, als Condors Schwanzspitze die Burgmauern passiert hatte, Schloss er den Kreis. Aicyn kniff die Augen zusammen, aber er zerfiel nicht zu Staub und ging auch nicht in Flammen auf. Freudig, Dem Ableben auch heute wieder entgangen zu sein, rannte er, mit den Hinterbeinen ausschlagend der Gruppe hinterher, um Adarwen gebührend zu begrüßen.


Lika konnte aber nicht wirklich mit den Neuigkeiten hinterm Berg halten, als sie die Eingangshalle durchquerten, in der sich die Brunnengargoyles eine Verfolgunsjagd lieferten, platzte sie heraus.
"Eyffl Moorstab ist noch einmal zurückgekehrt. Er hat die Kommissarin überfallen und den Kristall an sich gebracht. Ich glaube, er hat unseren Burggeist damit gefangen...... und ich hab in die Zukunft gesehen, glaube ich."
Sie sah Adarwen beunruhigt an und wartete auf Reaktion.
"Ich weiß nicht, ob ich dir folgen kann....", begann die Spionin.
"Der Nekromant kam hier rein?"
"Nein, Nein.... der Geist kam raus.", erklärte Lika.
"Wieso kam der Geist raus?! Der Geist verlässt NIE das Gemäuer!"
"Ja, aber er ist nicht mehr da. Grischmo kann es bestätigen."
"Vielleicht hat das Goldohr nur nicht richtig geschaut."
"Aber Moorstab hatte doch den Kristall!"
"Aber den hatte doch dieKommissarin mitgenommen..."
"Sie wurde im Wald von ihm überfallen und von einer Sphinx attackiert."
"Eine Sphinx.", wiederholte Adarwen skeptisch.
"Ja, ja. Eine männliche Sphinx. Sein Name ist Nexusarius Rembrandt Hannibal Pyronester Dunnjolf Perphalanx und er bewacht jetzt den Wald, nachdem ich ihn aus -"
"Und die Kommissarin?"
"Die ist jetzt.... oh Mist."
Lika drehte sich um, aber Lapis und Onyx hatten sich bereits von ihnen abgesetzt.
"Viel Spaß, Lika. Ich hab mich heute den ganzen Tag mit denen rumgeärgert. Das darfst DU machen."
Adarwen klopfte ihr mit der Hand auf die Schulter und verließ sie in Richtung ihres Zimmers.


Lika rannte so schnell sie ihre Füße tragen konnten zu dem jetzt doppelt belegten Zimmer in der Burg. Dass das in so einem großen Gemäuer überhaupt möglich war...

Die Tür stand offen und Onyx' große Silhouette war aus der Ferne auf dem Gang zu erkennen.
"Friede! Friede!"
Mit den Armen fuchtelnd hastete Lika hinzu um eine Eskalation der Lage zu verhindern.
Die beiden Lager standen sich zum ersten Mal auf engstem Raum gegenüber. Während Tinka Stutenhobel noch im Bett saß, das Kissen in ihrem Rücken aufgepolstert, war Mr. Quirr vom Stuhl aufgestanden und hatte eine Hand bereits an der Sonnenbrille.
Lapis stand im Türrahmen, die Klinke in der Hand und litt unter einem so genannten "oh shit" – Moment. Onyx zeigte – wie so oft – keine Gemütsregung.

"Bitte seid friedlich....", flehte Lika und schob sich an Lapis vorbei in die Mitte des Zimmers.
"So.", seufzte sie schließlich und klatschte in die Hände.
"Ich weiß, das ist jetzt eine sehr unangenehme Situation, aber vielleicht können wir für einen Moment unsere Diskrepanzen zur Seite schieben und uns auf das konzentrieren, was wir gemeinsam haben. Sitzen wir nicht alle in einem Boot?"
Die Ritterin sah lächelnd von Kommissarin und Anzugträger zum Müden Verbrecherduo.

"Eigentlich, Nein, nicht wirklich", antwortete Lapis und verhärtete den Blick. Tinka, die bis eben – nach einer ordentlichen Portion heißer Schokolade – noch milde gestimmt gewesen war, fühlte sich bei dieser feindlichen Eröffnung in ihrem Ordnungshüterinstinkt bestärkt.
"Lika, sie sind sich bewusst, dass sie Terroristen in ihrer Burg beherrbergen?"
Jetzt waren sie wieder beim "Sie" angekommen...

"Vielleicht müssen wir uns nur ein bisschen besser kennen lernen! So schlimm erscheinen mir die beiden gar nicht. Onyx wirkt auf den ersten Blick vielleicht etwas... respekteinflößend, aber das täuscht."
"Lika. Noch ein Wort und Ich muss dir den Mund stopfen.", gab Lapis klar zu verstehen.
"Wieso Lapis? Ich setze mich doch nur für euch ein."

Lapis seufzte. Nicht half bei diesen Weibern.

"Er heißt... Onyx?", fragte Tinka fasziniert. Die ganze Zeit, die sie den beiden schon auf der Spur gewesen war, hatte sie nicht mehr besessen als alte Fotos von Lapis und einige Schnappschüsse der beiden aus der Entfernung. Zum ersten Mal hatte sie sie direkt vor sich und zum ersten Mal hatte sie einen Namen für "Flüchtiger B", als was Onyx nur in ihren Akten aufgetaucht war.
"Was dagegen?", entgegnete Lapis äußerst giftig.
Onyx winkte verhalten.

"Tinka, BITTE!", rief Lika und lenkte die Aufmerksamkeit wieder auf sich.
"Diese Burg ist neutraler Boden. DU bist ein Gast, Mr. Quirr ist ein Gast, Mr. Lancer ist ein..... Buch und diese beiden hier sind hier genau so Gäste. Ich werde es NICHT dulden, dass meinen Gästen irgendetwas zustößt. Und dabei sind Verhaftungen oder Kämpfe untereinander miteinbegriffen. Sobald ihr einen Schritt aus unserem Grundstück heraussetzt könnt ihr meinetwegen euer albernes Räuber und Gendarm – Spiel fortsetzen, ist mir völlig egal. Aber hier werdet ihr nett zueinander sein!"
"Wir spielen das nicht nur....", erinnerte sie Mr. Quirr.

"Ist mir egal! Ihr habt mich gehört", bestärkte Lika ihre Hausordnung und gab mit beiden Händen ein Schlusszeichen.
"Soll ich in der Hauptstelle Bescheid geben?", fragte Mr. Quirr Tinka leise.
"IHR SOLLT NETT SEIN!", brüllte Lika noch einmal mit Nachdruck.

Kurze Zeit herrschte Stille im Raum.
Da schob Tinka die Bettdecke zurück und stand auf. Barfuss trat sie bis vor Lapis, bis sie gerade mal zehn Zentimeter Abstand zu ihm hatte und fixierte ihn mit beiden Augen.
"Sie wissen, dass ihr Vater sehr unglücklich ist, nachdem er beide Söhne verloren hat?", sagte sie mit leiser, anklagender Stimme.

"Er hat sie ans ASN verloren.", verteidigte sich Lapis im gleichen Tonfall.
"Wieso?"
Diese Frage war es, die Tinka all die Jahre getrieben hat. Je länger sie sich mit Lapis und diesem Fall beschäftigt hatte, desto brennender kam die Frage auf.
"Wieso wirft man in einer Nacht alles hin, Familie, Beruf, Zukunft , wieso macht man das?"

Lapis blickte auf die Frau hinab und sah einen Menschen, der die Welt wieder geradebiegen wollte. Ihre Augen schrien 'Gerechtigkeit!', während ihre Lippen in Unzufriedenheit zusammen gepresst waren.
"Vielleicht sitzen wir wirklich in einem Boot.", dachte Lapis, bevor er antwortete:
"Wenn sie den Grund noch nicht wissen, würde sie die Antwort wahrscheinlich in Schwierigkeit bringen. Möchten sie sie trotzdem hören?"

Tinka nickte.
"In dieser Nacht hat das ASN sich dazu entschieden, meinen Bruder zu töten, um einen Krieg zu gewinnen. Er durfte Versuchskaninchen für eine neue Waffe spielen."

Tinka wusste, dass Lapis' älterer Bruder Vergil im Krieg vor vier Jahren gedient hatte, aber seine Akte sagte bis heute "vermisst". Sämtliche Berichterstattung von damals strotzte nur so davon, wie glänzend das ASN den Zipfelaufstand gemeistert hatte und wie strategisch sinnvoll sie vorgegangen waren. Die Zeitungen ehrten die militärische Spezialeinheit, mit deren Hilfe es gelungen war, die Rebellion niederzuschlagen.

"Ich weiß, dass die Zeitungen etwas anderes sagen.... minimale Verluste auf Seiten des Militärs, dass es die Soldaten waren, die Helden, die uns vor einem größeren Krieg bewart haben – aber wie kann eine Spezialeinheit eine Schlacht gewinnen, indem sie komplett verloren geht? Ich weiß nicht, ob diese Informationen den Krieg überdauert haben, aber kein einziger Soldat der Einheit meines Bruders hat diese Entscheidungsschlacht überlebt. Zerbrechen sie sich mal darüber den Kopf, Frau Komissarin."


Tinka senkte den Blick. Sie hatte sich darauf gefasst gemacht, eine Antwort zu bekommen, aber sie hatte nicht auf die Wahrheit gewettet. Es ist wahr – der Krieg ließ viele Fragen offen und es war nicht ihre Aufgabe als Polizistin ihnen nach zu gehen. Eigentlich. Aber eigentlich wollte sie alles wissen. Nur – würde sie ihren Job noch machen können, nachdem sie alle Antworten wusste?

"Mein Beileid.", sagte sie steif.
Sie drehte sich um zu Mr. Quirr und schüttelte den Kopf.

"Keine Verstärkung vorerst. Der Kristall hat diesmal Priorität."


Adarwen steckte ihren Kopf zwischen Onyx und Türrahmen hindurch. Sie duftete nach Shampoo.

"Welch einträchtige Szene. Damit hätte ich gar nicht gerechnet..."

"Du bist schon fertig?", wunderte sich Lika. Adarwen hatte wohl einen neuen Rekord im Turboduschen aufgestellt.
"So etwas kann ich mir doch nicht entgehen lassen...", gab die Spionin zu und grinste.

"Du kommst wie gerufen!", sagte Lika. Sie öffnete den Mund, als würde sie gleich erklären, warum Adarwen wie gerufen kam, hastete dann aber wieder zur Tür, streckte den Finger in die Höhe und verkündete "Rührt euch nicht von der Stelle – bin sofort wieder da." Dann hörte man, wie ihre Füße über den Korridor trommelten.

"Etwas konfus, diese Frau.", seufzte Adarwen. Vom Rest des Raums kam Murmeln der Zustimmung. Trotz dieser aufkeimenden Eintracht herrschte bis zu Likas einige Minuten später betretene Stille.

Die Ritterin kam mit einem Stapel Papier in den Armen zurück. Sie ging in die Zimmermitte und verteilte die Blätter nebeneinander auf dem Boden.
"So. Kommt alle mal her!" Mit dieser Aufforderung setzte sie sich auch schon vor die Auslage auf den Boden. Die anderen verteilten sich ebenfalls auf dem Boden oder auf dem Bett um sie herum, bis sich schließlich zuletzt Mr Quirr auf dem Stuhl niederließ, um die Bleistiftzeichnungen auf dem Papier erkennen zu können. Adarwen warf Onyx einen etwas ungläubigen Blick zu, der mit angewinkelten Knien neben ihr saß und die Arme um die Beine geschlungen hatte. Er blickte neugierig über den Rand seiner Knie auf Likas schnell hingeworfene Kunstwerke.
"Und was soll das sein?", fragte Lapis und hob ein Blatt vor seine Nase.
"Nicht durcheinander bringen! Sie sind chronologisch geordnet!", schnauzte Lika ihn an.
"Was ist das, Lika?", fragte auch Tinka, die von einer Zeichnung zur nächsten schaute und langsam eine Kontinuität erahnte.
"Das ist der Weg, den deine Angreifer von hier aus mit dem Kristall zurück gelegt haben. Ich konnte ihnen ein Stück lang folgen... oder besser vorausgehen, aber das hier ist alles, was ich zustande brachte. Könnte man damit ihren Aufenthaltsort herausfinden?"
Mr. Quirr schob die Sonnenbrille weiter auf die Stirn und beugte sich auf dem Stuhl so weit vor, dass seine Krawatte fast auf den Boden ragte.
"Erinnerungen lesen wäre wahrscheinlich einfacher.", sagte er und Tinka schaute ihn böse an.
"Ach, das geht?" Likas Gemüt hellte sich auf.
"Es wird nur zur Rekonstruktion eines Tathergangs vewendet, wenn die Beteiligten nicht kooperativ sind, nicht ansprechbar oder wenn wahrscheinlich ist, dass sie lügen.", fügte Tinka hinzu.
"Und man wird Plemplem dabei", gab Lapis seinen Senf dazu.
"Manchmal gibt es Nebenwirkungen, ja. Deswegen wird es kaum eingesetzt!", stellte Tinka klar.
"Ich würde lieber darauf verzichten...", sagte Lika mit einem müden Lächeln.

"Ja, wir können versuchen den Ort zu rekonstruieren. Vielleicht solltest du dafür mitkommen, damit wir eine Quelle haben, die die Bilder richtig auswerten kann.", antwortete Tinka und Lika verzog das Gesicht.
"Ich weiß, Landschaften sind nicht meine Stärke."
"Keinesfalls. Ich bin froh darüber, dass wir den Dieben so vielleicht auf die Spur kommen können und den Terroristen gleich dazu. Wenn ihr wollt, können wir gleich zum Polizeiamt aufbrechen."
"Verzichte", murmelte Lapis.

"Ich weiß nicht, ob ich die Burg im Moment allein lassen möchte. Wir sind jetzt angreifbar. Die anderen müssten bald wieder zurück sein, lass uns solange noch warten."


"Sag mal... hat sich Thalia schon bei dir gemeldet?", klinkte sich Adarwen, die bisher still die Bilder betrachtet hatte, in das Gespräch mit ein.

"Nein, seltsamerweise nicht...", überlegte Lika. Der Tag war so ereignisreich gewesen, dass sie nicht wirklich auf den Spiegel geachtet hatte.

"Vielleicht sollten wir nachfragen, ob alles in Ordnung ist."


Es wurde dunkel über Branding, während der Schnee auf dem Gras und den Baumwipfeln langsam schmolz. Während Lignus' Hamster auf der Fensterbank saß und Kolbenhirse knabberte, sah Lignus aus dem Fenster und dachte nach. Auf seinem Bett lag der Beutel, den Thalia ihm wortlos in die Hand gedrückt hatte, bevor sie verhaftet worden war. Er war noch nie so aufgeregt gewesen. Nicht bei der Einschulung und auch nicht vor dem großen Turnier. HatteThalia gewusst, dass sie verhaften werden würde? Würden die ASN Leute zurück kommen und den Beutel verlangen? Warum hatte sie ihm den Beutel überlassen und ihn nicht dem Reiterkönig gegeben? Erwartete sie, dass er irgendetwas damit tat? Lignus sah zu, wie Galaktoglycomannan auf seinem Hinterteil saß und sich weiter die Backen mit Kolbenhirse vollstopfte. Er hatte hineingeschaut in den Beutel und es war nur ein Buch, ein Spiegel, ein Kamm.... eigentlich nichts von großem Wert darin gewesen. Das Buch hatte interessant ausgesehen, aber er konnte es nicht lesen. Vielleicht hatte er etwas übersehen?
Als sich Lignus umdrehte um zum Bett zurückzugehen und nachzuschauen, ertönte direkt am Fenster ein lauter Knall. Er zuckte zusammen.
Ein farbenprächtiger blauer Vogel saß draußen auf der Fensterbank und rückte unruhig von einem Bein auf das andere. Galactoglycomannan verzog sich schnell in den weiten Ärmel von Lignus' Robe.
"Churel!", realisierte der kleine Magierschüler nach dem ersten Schreck und öffnete das Fenster. Der Phönix sprang auf die Innenseite des Fensterbretts, sodass sein Körper im Zimmer, aber sein prächtiger Federschweif noch außerhalb war und begann die Reste des Hamsters aufzupicken.
"Na toll... was soll ich jetzt mit dir machen?"

Ein paar einsame Schneeflocken wurden vom Luftzug des offenen Fensters hereingeweht.
Der Phönix legte den Kopf schief und blinzelte. Er sah nicht aus, als wollte er sich in nächster Zeit wieder vom Fensterbrett erheben. Da ging Lignus ein Licht auf.
"Vielleicht kannst du Thalias Tasche mitnehmen?"und begann die Reste des Hamsters aufzupicken.
Er griff nach dem Beutel und legte ihn neben dem Vogel auf der Fensterbank ab.
Phönixe waren schlaue Wesen, wusste er und Thalias Phönix würde bestimmt besser wissen, was mit ihren Besitztümern anzufangen sei.
Churel krächzte erstaunlich laut und anklagend.

"Psssssst!"
Churel ließ sich nicht davon abhalten, wieder zu krächzen und die Beutelannahme zu verweigern.
"Wenn du entdeckt wirst, krieg ich Ärger!", flüsterte Lignus mahnend. Was, wenn seine Zimmergenossen auf einmal hereinkamen? Oder die vom Nachbarzimmer hereinplatzten?

Mit einem Handwisch ließ er das Schloß der Zimmertür klacken.

"Thalia, bist du da?"
Lignus machte fast einen Satz rückwärts.
Haa.....hatte der Phönix gerade gesprochen?
Churel krächzte jetzt den Beutel empört an.
"Hey, ich höre Churel. Thalia, geh ran!"

Die weibliche Stimme entstammte dem Beutelinneren.
Eilig löste Lignus den Knoten der Kordel, die den Beutel verschloss und holte den Gegenstand heraus, von dem der "Anruf" ausging.
Im Glas des Handspiegels erschien nicht sein eigenes Gesicht, sondern er sah die Köpfe zweier Frauen, die ihm vage bekannt vorkamen.

"Oh, Hallo!", sagte eine der beiden verwundert.

"H-hallo.", entgegnete er und hob den Spiegel so weit von sich weg, wie es ging. Churel flatterte auf, setzte sich schwer, wie er war, auf die schmale linke Schulter des Jungens und stieß ein Begrüßungskrächzen richtung Spiegel aus.
"Siehst du, Darwinelchen, da IST Churel.", sagte die Frau, die ihn begrüßt hatte und nickte ihrer Freundin zu.

"Kannst du uns an Thalia weiterreichen?", ignorierte die sie und sprach Lignus an.
"Würde ich ja gerne....", seufzte Lignus.

"...aber leider wurde sie verhaftet."
"Ach so. Na dann... kannst du vielleicht.... - Moment. Sie wurde WAS?!", änderte Adarwen drei mal ihren Satz, als ihr klar wurde, was er gerade gesagt hatte.

"Da waren Leute vom ASN da. Und sie haben sie mitgenommen, weil ihre Hexenlizenz nicht gültig war oder so."


So oder so, Thalia dachte an Flucht.

Mit dem Gedanken, dass sie irgendwann mal von ASN-Beamten abgeführt werden würde, hatte sie bereits zu Schulzeiten gespielt, aber sie häte nicht gedacht, dass es so schnell passieren würde.

Jetzt waren ihre Hände auf dem Rücken mit speziellen Fesseln verbunden, die ihre magischen Kräfte unterdrückten und rechts und links von ihr hatten ASN Männer in Sicherheitswesten ihre Arme im eisernen Griff. Sie wurde durch einen magischen Korridur geführt, dessen blaue, wirbelnde Wände nur den Weg nach Vorne möglich machte.
"Meint ihr nicht, dass ihr etwas übertreibt?", rutschte es ihr schließlich doch heraus.

"Unsere Vorschriften haben schon ihren Sinn.", sagte der Mann links zu ihr mit dröger Stimme.
Sein gelangweilter Blick war auf seinen Vordermann gerichtet. Der Beamte rechts von ihr kaute Kaugummie mit unangenehm nach künstlicher Kirsche stinkendem Aroma. Scheinbar beanspruchte das seine gesamte Gehirnkapazität, denn er reagierte überhaupt nicht und schlurfte nur weiter vor sich hin.
Hinter ihr liefen zwei weitere Kerle, der letzte rollte ein Kabel auf seine Schulter, das scheinbar gebraucht wurde, um den Korridor aufrecht zu halten.
Flucht konnte sie also wohl knicken.
"Und wo bringt ihr mich jetzt hin?"
"Zum Chef."

Gut, dachte Thalia. Mal wieder ein bürokratisches Manöver, das ihr wahrscheinlich eine halbe Stunde Vortrag in dem mit Büchern vollgestopften Büro des Chefs bescherte. Aber diesmal sahen die Beamten so anders aus... es gab keine Melonen und keine Krawattennadeln....

"Zu welcher Abteilung gehört ihr eigentlich?", fragte sie ihre linke Eskorte.
Sein Mund verzog sich zu einem dreckigen Grinsen.
Das gefiel Thalia überhaupt nicht.
"Steht mir nicht ein Anwalt zu?!"
"Klappe jetzt.", murrte der Kerl, der vor ihr ging, worauf dem Mann zu ihrer Linken das Lächeln auf den Lippen gefror.


Sie waren am Ende des Korridors angekommen. Der vorderste Mann des Trupps nahm den Stecker, der das Ende des Kabels darstellte und verband ihn mit einer Steckdose, die vor ihnen aus der blauen Wand ragte.
Augenblicklich flackerte diese und verschwand schließlich. Sie waren im ASN Hauptquartier angekommen.


Es war im Untergeschoss, wie es schien, denn sie umgaben Betonwände, die von Neonlicht beschienen wurden. Der letzte Mann der Gruppe rollte das Kabel zu Ende und hängte es über einen Haken im Betonpfeiler vor ihnen.
Der große Raum, in dem sie angekommen waren, war von noch mehr dieser Betonpfeiler gefüllt, an denen jeweils eine Anzeige mit sich umblätternden Täfelchen, genau wie an Bahnsteigen angebracht waren. Hin und wieder änderte sich eine Anzeige und das flattern der sich umblätternden Buchstaben und Zahlen hallte durch die Betonwüste.
"Wann macht der Chef noch mal Schluss?", fragte der Anführer der Truppe und schaute auf eine aufklappbare Taschenuhr.

"Ne Stunde nach Schichtwechsel oder so.", kam die Antwort von einem Kollegen.
"Na dann haben wir ja noch ein bisschen Zeit."

"So, Frau Hexe, jetzt gehen wir erstmal zur Gepäckaufbewahrung!"

Thalia weigerte sich auch nur einen weiteren Schritt zu laufen.
"Ich will einen Anwalt."
Warum war ihr das nicht früher eingefallen?
"Sie will einen Anwalt...", seufzte der Rottenführer.
"Hör mal, Hexchen. Wenn jemand beim Falschparken erwischt wird, kriegt der auch keinen Anwalt. Er zahlt seine Strafe und fertig."
"Mir ist noch nie untergekommen, dass jemand wegen Falschparkens gefesselt in ein Kellerloch verschleppt wurde!"

"Und deswegen gibt es so viele Falschparker."
"Nein", entgegnete Thalia giftig, "Es gibt so viele Falschparker, weil die Städte das Geld, das sie brauchen, durch unnötige Verkehrsverbotzonen bei den Autofahrern wieder reinholen."
Sie hatte keine Ahnung, warum sie die Autofahrer in Schutz nahm. Sie hatte kein Auto, konnte nicht fahren und kannte auch niemanden sonst, der es konnte oder müsste.

"Hört hört." antwortete der Mann nur und zog die Augenbrauen hoch.

Aber es half nichts. Thalia wurde in einen kleinen Raum ohne Fenster gebracht. Auf einer Bank, dem einzigen Möbelstück darin, lag eine Garnitur einfacher Kleidung. Eine Jogginghose und ein zu großes T-shirt, eine Garnitur Unterwäsche, weiße Pantoffeln. Thalia ließ die Kiste, die man ihr in die Hand drückte, auf eben diese Bank fallen.
Man hatte ihr aufgetragen, alles, was sie am Leib trug, dort hineinzulegen. Es war die richtige Entscheidung gewesen, ihre Tasche dem Knirps zu geben. Ihre Hand umschloss den Anhänger mit dem rostigen Löffel an ihrem Hals. Sie spielte mit dem Gedanken, das ganze Gebäude abzufackeln. Aber das war ein dummer Gedanke, geboren aus ihrer Angst, die in dieser kleinen Zelle noch wuchs. Da draußen waren vier andere Ritterinnen, die sie schon bald suchen würden, eine davon konnte teleportieren und war eine hervorragende Kämpferin, die andere eine Meisterdiebin und Darwinelchen... Darwinelchen würde sie nie im Stich lassen. Schweren Herzens legte sie den Anhänger zu oberst auf ihre zusammengefaltete Kleidung.
Sie wusste nicht, ob das ASN damit irgendetwas anfangen konnte. Sie hatten nichts mit dem Tauchsieder anfangen können, also bestand Hoffnung, dass sie alles am Ende wiederbekam. Es machte keinen Sinn, die Kette zu verstecken, also warum nicht so tun, als sei sie nur ein Schmuckstück?
Sie füllte den Zettel über ihre Habseligkeiten in doppelter Ausführung aus und kam erhobenen Hauptes in ihrer neuen Kleidung wieder heraus.

"Ist nur ne Sicherheitsmaßnahme, wenn du mit dem Chef sprichst...", erklärte der Typ, der vorhin den Falschparkervergleich gebracht hatte, seine Kollegen hatten sich bereits aus dem Staub gemacht. Sie folgte ihm gemächlich einen langen, weiß gestrichenen Korridor entlang, der klinisch mit Neonröhren ausgeleuchtet wurde.
"Ich habe auch schon in meiner ganz normalen Kleidung mit dem Chef gesprochen. Das ging ohne Probleme." War dieser Institution mit André Hibis der einzige mit Hirn abhanden gekommen?!
"Nichts für ungut, aber ich glaube nicht, dass du schon mal mit dem Chef geredet hast...", antwortete der Mann gelangweilt und öffnete die Tür am Ende des Ganges.
Thalia tratt in ein kleines Vorzimmer, rechts standen eine Reihe schmucklose Stühle, links saß hinter einem hohen Schreibtisch eine Sekretärin, derren orangerote Haare zusammen mit einem Strauß gelber Tulpen auf der Tischplatte die einzigen Farbakzente im Raum setzten.

"Hallo, Betzi."
Die junge Sekretärin sah von einer Zeitschrift auf und nickte dem Mitarbeiter zu. Lächelnd nahm sie Thalia zur Kenntnis.
"Einfach durch, er wartet schon auf Sie.", gewährte sie Thalia Zutritt.

Was war mit Martini geschehen? Warum war der Chef nicht in seinem anderen Büro? Vielleicht hatte er einfach mehrere Büros, passend für verschiedene Anlässe?
Thalias Eskorte begleitete sie noch bis zur Tür und wartete daneben auf einem Stuhl.
"Probier ja keine Dummheiten. Der Raum ist gegen Magie gesichert.", warnte er sie noch einmal.
Thalia zog die Stirn kraus und vergaß beim Eintreten ganz anzuklopfen.


Der angrenzende Raum war kaum größer als das Vorzimmer. Sechs Wände Beton, keine Fenster. Ein schmuckloser Schreibtisch stand auf einem schwarzen Teppich. Dahinter: Ein Mann mit Glatze. Es war nichts auffällig an ihm, nur: Er hatte keine Haare. Das war nicht der Chef.

Der Mann sah von seiner Zeitung auf, als wäre er überrascht worden.
"Da haben wir sie ja."
Thalia verschränkte die Arme vor der Brust.
"Eigentlich war ich darauf eingestellt, mit dem richtigen Chef zu sprechen."

"Tja nun.", antwortete der Mann und faltete die Zeitung zusammen, " Sie werden es noch nicht gehört haben, aber es gibt im Moment keinen anderen Chef. Morgen sollte es in der Zeitung stehen."
Er stand auf und reichte Thalia die Hand über den Schreibtisch hinweg.
"Nennen sie mich Summa."

Thalia nahm zögernd den Handschlag an.
"Und wer sind sie in diesem Laden?"
"Man könnte mich als Executive Producer bezeichnen... Sie wissen, weshalb sie hier sind?"

"Man sagte mir, meine Hexenlizenz sei ungültig."

Der Mann, der "Summa" genannt werden wollte, sah sie einen Moment mit einem Blick an, den Thalia als verwirrt gedeutet hätte. Dann nickte er.
"Genau. Ihre Lizenz."


Thalia nahm sich die Freiheit, einen Stuhl für ich heranzuschieben und legte sich im Kopf ein paar Antworten zurecht. Die Taktik des ASN schien es sein, seine Gegenüber zu überrumpeln. Aber diesmal nicht!
"Wie sie sich vielleicht vorstellen können, legt das ASN großen Wert darauf, dass zukünftige Hexen und Magier eine ordentliche Ausbildung erhalten. Nicht zuletzt anhand der Zahl der Schulabbrecher legen wir unseren Etat für die Zukunft fest, entscheiden über den Bau von neuen Gefängnissen und die Aufstockung der Gelder für Zivilschutz und Militär. Die Schulabbrecher von heute sind eine Bedrohung für morgen."

"Ich habe meine Hexenausbildung nicht abgebrochen.", widersprach Thalia, "Rektorin Seraphine hat mein Abschlusszeugnis unterzeichnet und mir meinen Hexenring gegeben. Ehrlich gesagt bezweifle ich die Rechtmäßigkeit meiner "Festnahme". Ich habe kein Verbrechen begangen."

"Da würde ich vehement widersprechen. Sie haben ohne gültige Hexenlizenz am Turnier des Reiches teilgenommen, das war eine rechtswidrige Aktion. Angesichts des Ausgangs dieser Veranstaltung müssen wir unsere Konsequenzen ziehen.", sagte der kahlköpfige Mann. Seine Miene war inzwischen versteinert, als könnte ihn nichts und niemand von seiner Auffassung abbringen.
Thalia rannte gegen Mauern an, die sie auch der dicke Drache in ihrem Burghof nicht hätte einreissen können.
"Dann erklären sie mir bitte, wieso der Chef des ASN meine Teilnahme am Turnier erwünscht, ja fast schon angeordnet hat, wenn ihr Amt meine Hexenlizenz nicht anerkennt!"

Summas Mundwinkel zuckten.
"Jetzt fantasieren sie wohl. Haben sie irgendwelche Beweise für diese Behauptung?"

In Thalia brodelte die Wut. Natürlich hatten sie keine Beweise auf Papier, denn die Briefe, die André geschickt hatte, hatten sich ja selbst vernichtet.

"Sie können den Herrn ja gerne selbst fragen."
Aber eigentlich war das eine schlechte Idee. Der Mann war so verpeilt, dass er die Sache womöglich schon wieder vergessen hatte.

"Ich bin mir sicher, im Büro des Generalsekretärs werden sich noch Unterlagen finden, die meine Aussage bestätigen."


Summa nickte. "Die Akten des ehemaligen Generalsekretärs wurden bereits konfisziert, da sie Fehlentscheidungen und rechtswidrige Vorgänge der Generalstabsspitze dokumentieren. Wenn das stimmt, was sie da behaupten, haben wir einen weiteren Punkt, für den sich der ehemalige Chef verantworten muss. Aber zurück zu Ihnen. Dass sie ohne gültige Lizenz Hexerei betreiben, ist die einer Sache. Aber dachten sie wirklich, dass wir es lange dulden würden, dass sie ein vom ASN gesperrtes und überwachtes Gebäude besetzt haben?"

Thalia stand der Mund offen.

Meldet euer Haus an.


Andrés P.S. hatte sie in der seltsamsten Form eingeholt.

"Wir haben das Haus vom Vorbesitzer übernommen.", antwortete Thalia, aber sie klang nicht mehr so bestimmt wie zuvor. Lika hatte eine Anzeige in der Zeitung gesehen. Sie hatte telefoniert. Sie hatte einen Eigentumsvertrag unterzeichnet. Aber der Vorbesitzer schwebte noch immer als Geist durch die Gemäuer. Von wem hatten sie die Rechte über das Haus bekommen? Von Verwandten?


"Das ist unmöglich. Die Burg ist seit gut einem halben Jahrhundert in unserem Besitz. Sich dort niederzulassen stellt nicht nur eine Form von Hausfriedensbruch dar, sondern eine hochgradige Bedrohung für unter Kreise."

Hieß das, das ASN hatte seine Männer auch zur Burg geschickt um die anderen zu verhaften?!


Es klopfte an der Tür und ein Mann streckte nach einem kurzen "Ja!" von Seitens Summa seinen Kopf durch die Tür.
"Chef, das Ding wurde erfolgreich abgeliefert."
"Alles klar.", antwortete Summa und erhob sich von seinem Stuhl.

"Thalia, leider ist etwas sehr Wichtiges dazwischengekommen. Wir müssen unsere Unterhaltung morgen weiterführen. Die Rektorin der Hexenschule wurde informiert und sie möchte ebenfalls morgen früh vorbei kommen. Womöglich bekommen sie noch ihre Chance, eine gültige Hexenlizenz zu erwerben. Also lassen sie die Schultern nicht hängen. Bitte lassen sie sich von Partial ein Nachtquartier zuweisen. Er deutete zur Tür, die der Bote offen gelassen hatte. Eigentlich hätte Thalia aus Protest sitzen bleiben sollen. Aber etwas Zeit war genau das, was sie brauchte. Sie stand auf und ging zur Tür. Der Mann, der sie hergebracht hatte stand vor dem Schreibtisch der Sekretärin und unterhielt sich laut lachend mit ihr. Das war wohl Partial. Neben der Blumenvase mit den Tulpen stand die Kiste mit ihren Sachen.

"Na dann Betzi, ich muss wieder los.", verabschiedete er sich von der Sekretärin, ergriff die Kiste und klemmte sie sich unter seinen Arm. Er schien jetzt viel bessere Laune zu haben als zuvor, denn er nickte Thalia zu und sagte "Immer mir nach!"
Die Sekretärin lächelte Thalia zu, als sie mit abwesendem Blick und tief in Gedanken an ihrem Schreibtisch vorbei ging. Die Ritterin folgte Dem Mann einen weiteren Gang entlang. Ihr blick wanderte von seinem Rücken zum Inhalt der Kiste unter seinem Arm. Der rostige Löffel war verschwunden.

 

Hälst du das für eine gute Idee?

 

Lika und Adarwen sahen sich ratlos an.
Die Spionin hielt noch immer den Spiegel in er Hand, mit dem sie Kontakt zu Lignus aufgebaut hatten. Die beiden standen, umringt von ihren Gästen in dem kleinen Zimmer und versuchten etwas aus der Neuigkeit zu machen, dass ihre Freundin verhaftet worden war.
"Thalia hat doch einen Hexenring, oder?"
"Eigentlich schon. Es ist etwas kompliziert, da die Schulleitung wechselte, als sie ihren Abschluss machte...", erklärte Adarwen für ihre Freundin.
"Ich kann mich kurz erkundigen, was da los ist. Wartet einen Moment.", klinkte sich Tinka in das Gespräch ein. Sie holte ihren Schlüssel hervor, an der sich eine Kugel befand.

Nach kurzer Zeit hatte sie eine fleissige Person im Polizeihauptquartier erwischt, die um diese Uhrzeit noch arbeitete und die Festnahmen des Tages für sie heraussuchen konnte.
"Das ist seltsam, sie ist nicht dabei. Heute gab es überhaupt keine Hexenfestnahme. Normalerweise haben wir für solche Fälle eine Gnadenfrist, in der man benachrichtigt wird mit der Aufforderung, seine Lizenz nachzumachen. Es gibt einen Kurs für Leute, die ihre Lizenz wegen Patzern verloren haben, in dem sie die Chance haben, sie wieder bekommen zu können. Ein ziemlich strenges Verfahren, aber für Hexen, die ihre Magie im Griff haben, eigentlich zu schaffen.", erklärte die Kommissarin schließlich.
"Das heißt, irgendwas stinkt da ziemlich widerlich zum Himmel.", gab jetzt auch Lapis seinen Senf dazu. Er schob sich zwischen Adarwen und Lika, um auch den Spiegel im Blick zu haben.
"Hey Kleiner. Ist dir bei den ASN-Heinis was aufgefallen? Wie sahen sie aus?"
"Sie hatten Warnwesten an. Einer hatte ein Kabel über der Schulter, glaube ich.", kam es ziemlich promt von Lignus Seite.
Lapis lachte kurz und trocken.
"Sagt schon mal Adieu zu eurer Hexe. Das ASN hat sie wohl zum Staatsfeind erklärt und sie hat das geschafft, was Onyx und ich die ganzen Jahre zu verhindern wussten: Sie wurden von der Kavallerie aufgegriffen."
"Moment mal, das stimmt nicht. Wir haben kein einziges Mal Verstärkung vom – von der Spezialeinheit angefordert!", widersprach ihm Tinka.
"Dafür waren sie uns aber ganz schön oft an den Fersen gehangen, Frau Kommissarin. Sind die sicher, dass sie noch den Überblick haben?"
Tinka zog die Stirn kraus und versank in Gedanken.
Die arme Frau, dachte Lapis. Sie hatte einen undankbaren Job abbekommen. Sie war die Alibi- Ermittlerin, während hinter den Kulissen bereits die Jagdhunde auf sie scharf gemacht worden waren.
"Könntet ihr mich aufklären?", fragte Lika.
"Im Grunde hat der Geheimdienst Thalia geschnappt.", antwortete Adarwen.
"Jupp.", sagte Lapis.
"Es scheint auf den ersten Blick so.", lenkte Tinka ein, "aber wir wissen nicht sicher, ob sie es tatsächlich waren."
"Sogar der Rektor hatte Angst.", meldete sich Lignus aufgeregt.
"Okay.... wir machen das so.", schlug Tinka vor. "Wir kehren zum Kommissariat zurück und versuchen dahinter zu kommen. Ich habe auch noch ein paar Kontakte, die ich ausspielen kann."
"Sie ist ganz schön praktisch.", flüsterte Lapis Onyx zu und kassierte einen zornigen Blick.
"Ich komme mit!", beschloss Lika, "Ich werde versuchen, mit dem Chef zu sprechen. Wenn doch nur André hier wäre. Und du, Adarwen..."
"Was soll ich machen?" Adarwen und Lika sahen zum Spiegel, wo ihnen ein hibbeliger Magierschüler entgegenblickte.
"Du bleibst, wo du bist.", sagten Lika und Adarwen einstimmig.
Dann kappten sie die Verbindung.
"Hey!!"
Aber der Spiegel zeigte nur sein dunkles Spiegelbild, genau wie er es sollte. Da half auch Schütteln nicht. Lignus ließ sich aufs Bett fallen. Churel flatterte wieder zur Fensterbank und suchte nach weiterer Kolbenhirse.
Da bleiben, wo er war. Nichts tun.
Was war heute genau geschehen. Thalia war gekommen, um mit dem Rektor und dem König zu sprechen. Ihr Gespräch endete damit, dass der König erbost aufbrechen wollte. Er hatte nicht die ganze Unterhaltung mitbekommen, aber sie hatten über eine Prophezeihung gesprochen, von der Thalia ein Teil sein soll. Der Rektor versuchte zu schlichten. Oder wollte er sie davon abhalten, aufzubrechen? Hatte er gewusst, dass ein Einsatzkommando auf sie wartete? Auf einmal formte sich in Lignus Kopf die Lösung. Der Rektor musste von Thalias Ring gewusst haben. ER hatte das ASN verständigt, damit sie die Hexe festnahmen. Er sah zu dem Beutel. Das Buch. Thalia wollte nicht, dass sie das Buch bekommen. Wenn sie merkten, dass die Hexe es nicht bei sich hatte, würden sie zurück kommen. Der Rektor wusste, dass er der einzige war, der es haben könnte. Das Buch war nicht sicher bei ihm.
Er schwang sich auf die Beine.
"Kannst du mir helfen, Churel?" Der Phönix sah ihn mit schiefgelegtem Kopf an.
"Du kannst mich zu Thalias Freundinnen bringen, oder?"
Der Vogel schlug einmal mit den Flügeln und schüttelte sich, so als wäre er abflugbereit.
Da ertönten Schritte auf dem Gang. Lignus erkannte die Stimmen seiner Zimmergenossen.
Schnell schob er Churel nach draußen und schloss das Fenster. Gerade, als sich die Türklinke senkte, öffnete er mit einem Handwisch das Schloss.

"Du hast das Abendessen verpasst. Sag mal, was sitzt du hier im Dunkeln?"
Einer der Magierschüler machte Licht. Es hat Lignus etwas in den Augen weh, nachdem er sich so an die Dunkelheit gewöhnt hat.
"Ich hatte Bauchschmerzen... und jetzt habe ich gemerkt, dass ich heute Gartendienst hatte... muss noch mal runter." Er wickelte schnell seine Jacke um den Beutel und huschte an seinen Freunden vorbei aus dem Zimmer.
Es war die Zeit, um auf die Zimmer zurück zu kehren. Ständig begegneten ihm Gruppen von Schülern, die von ihren AGs oder vom Training zurück kamen oder zu einem der Badezimmer aufbrachen. Das hieß, es war noch genug Leben im Schloss, dass er auf seinem Weg richtung Akademiegarten nicht besonders auffiel.
Anfangs jedenfalls nicht. Vor ihm lag das Portal, das aus dem Wohntrakt zu den Klassensälen hinunter führte. Noch war es nicht geschlossen. Es gab zwar noch einen anderen Weg, aber der führte zum Haupttor und bei Anbruch der Nacht würde es überwacht sein. Wenn er Pech hatte, war die Tür zum Garten auch abgeschlossen, aber es geschah oft, dass derjenige mit Gartendienst es einfach vergaß.

Na los, Lignus, worauf wartest du eigentlich noch? Keine Zeit, seine Entscheidung noch einmal zu überdenken. Mit einem Schritt war er durch das Portal und die Unruhe des Korridors davor war verstummt. Der Gang vor ihm war dunkel und ruhig, er war nur erhellt vom Mondlicht, das vom Schnee auf den Fensterrahmen reflektiert wurde.
Und von dem Licht, das aus einem offenen Klassenzimmer einen Kegel auf den dunklen Korridor warf.
Lignus schlich weiter und lauschte.
Nichts zu hören. Wahrscheinlich war das Klassenzimmer leer und das Licht brannte noch. Da würde ein Klassendienst morgen was zu hören bekommen...
Vorsichtig spähte er, Nasenspitze voran, durch die offene Tür und schreckte gleich wieder zurück. Am anderen Ende des Saals saß der Vizekanzler am Schreibtisch und korrigierte arbeiten. Verdammter Workoholic. Lignus riskierte noch einen Blick. Er war so über seine Arbeit vertieft, dass er ihn womöglich gar nicht bemerkte. Also los. Er huschte auf die andere Seite der Tür, als würde er eine schmale Schlucht überspringen und war wieder im sicheren Schatten. Er hörte Papierrascheln aus dem Klassenzimmer, sonst nichts. Also weiter. Er konnte schon das Portal am anderern ende des Gangs sehen, das zur Rückseite des Schlosses führte und zum Ausgang. Ging ja einfach, dachte er. Warum war der nicht schon viel öfters nachts rausge -
"Ist es nicht etwas zu spät für einen Spaziergang?"
Lignus sprang bestimmt einen halben Meter in die Höhe, als die mahnende Stimme des Vizekanzlers direkt hinter seinem Rücken erklang.
Er drehte sich um und achtete darauf, dass das Knäul aus seiner Jacke und Thalias Tasche nicht unter seine Augen kam.
"Ich habe vergessen, dass ich heute mit Gartendienst dran bin, Sir und wollte es jetzt nachholen."
Erst schwänzte er den Unterricht, um an der Tür des Rektors zu lauschen und jetzt trieb er sich zur Sperrstunde auf dem Flur herum... das würde einen ordentlichen Karriereknick bedeuten.
"Wenn wir eine Schule für Ninjas wären, würde ich dir erstmal eine Sechs in lautlosem Fortbewegen verpassen. Aber da wir eine Magierschule sind, wirst du mir als Strafarbeit bis Montag einen Aufsatz über Stille- und Lautlosigkeitszauber, ihre Vor- und Nachteile und Anwendungsmöglichkeiten von mindestens 800 Wörtern anfertigen. Und jetzt gehst du zurück in dein Quartier. Du kannst die Pflanzen morgen früh vor dem Unterricht gießen."
Lignus ließ den Kopf hängen. Sorry, Thalia, er hatte es versucht. Aber mit Professor Donar sollte man es sich nicht verscherzen und das hatte er auch nicht vor.
"Ja, Sir.", murmelte Lignus ein bisschen zu niedergeschlagen.
"Einmal früher aufstehen wird dich sicherlich nicht umbringen! Und jetzt sag nicht, dass dich der Aufsatz verzweifeln lässt."
"Nein Sir, es ist nur -"
Tock, Tock!
Ein Geräusch vom Fenster her verhinderte, dass Lignus den unüberlegt begonnenen Satz irgendwie beenden musste.
Auf dem äußeren Fensterbrett saß Churel, sein Azur – Gefieder leuchtete unnatürlich hell in der Nacht. Lignus rutschte das Herz erneut in die Robe.
"Ist das.... ein blauer Phönix?", wunderte sich Professor Donar und blickte von Churel, der sich mit der Kralle am Kopf kratzte, zurück zu Lignus, als hätte er eine erklärende Antwort für ihn.
Aber Lignus hatte nur einen Gedanken, der sich unaufhörlich in seinem Kopf wiederholte, als der Vizekanzler ihn mit fragenden Augen fixierte. Sag. Nichts. Falsches. Er brauchte einen Moment zu lange für ein "Sieht so aus." und Professor Donars Hirn hatte die Hinweise etwas zu schnell kombiniert.
"Lignus. Zeig mir mal deine Tasche."
Churel pickte mit dem Schnabel gegen die Fensterscheibe.
Professor Donar stand mit ausgestreckter Hand vor ihm, aber er rührte sich nicht. Er hatte nie gelernt, den Professor anzulügen, der immer fair zu ihm gewesen war und ihn zum Turnier mitgenommen hatte und er war heute Abend bereits an seine Grenzen gestoßen.
"Dir passiert nichts, Lignus. Du hast deine Strafarbeit schon. Aber dir gehört die Tasche nicht, oder? Gib sie mir, ich werde sie der Besitzerin zurück geben."
Diesmal war es der Professor, der ihn anlog, da war sich Lignus sicher. Er machte einen vorsichtigen Schritt zurück.
"Es ist meine Tasche."
"Humbug!", rief der Magier streng. Er musste noch nicht einmal zaubern. Mit einr blitzschnellen Bewegung hatte er Lignus das Knäul aus Jacke und Tasche, das er hinter sienem Rücken gehalten hatte, aus den Händen gerissen. Mit offenen Mund musste Lignus zuschauen, wie der Professor das Knäul trennte und ihm mit wütendem Blick die Jacke zurück warf.
Churel vor dem Fenster hatte die Ruhe weg. Gerade putzte er seinen Schnabel am Fensterrahmen, nachdem er den Schnee um sich herum weggeschmolzen hatte.
"Mein Kurzzeitgedächtnis ist ausgezeichnet. Du musst mich nicht für Dumm verkaufen.", schnautzte der Professor und öffnete die Klappe der Tasche.
"Sie mich auch nicht", dachte Lignus genau so sauer.
Der Professor kramte in der geräumigen Tasche und zog als erstes den Spiegel hervor. Als nächstes würde er das Buch entdecken.
"Was hattest du damit vor? Du bist eindeutig noch zu jung für nächtliche Ausflüge mit Diebesgut! Wolltest du vielleicht beim ASN – AHRG!"
Mit einem Schmerzensschrei zog Professor Donar seine Hand zurück.Von seinen Fingern tropfte Blut. Aus dem Beutel war ein lautes Fauchen zu hören.

Lieber Professor, für die Zukunft ein guter Rat unter Freunden... wühlen sie nicht in den Handtaschen fremder Hexen, wenn sie ihre Finger noch brauchen.
Aus der Öffnung der Tasche schoss eine Stichflamme hervor. Der Magier ließ reflexartig die Tasche fallen. Aus ihrem Inneren plumste eine kleine Echse auf den Boden, die rasant größer wurde, bis ein ausgewachsener Drache den Flur ausfüllte und wütend den Professor anvisierte.
Gerade noch auf dem falschen Fuß erwischt, errichtete der einen Schild, der den nächsten Feuerschwall abhielt. Vom Teppich zu seinen Füßen war nur noch ein verschmorter Rest übrich, der langsam ausglühte.
Arco war sauer. Den ganzen Abend hatte er in der Tasche ausgeharrt, war zuletzt eingequetscht und durchgeschüttelt worden und dann steckte deise Bohnenstange von Mensch seine Hand in den Beutel und stach ihm fast ein Auge aus. Seine Geduld war am Ende.
"Lignus, ruf ihn sofort zurück!", hörte er die befehlende Stimme seines Lehrers von jenseits des Drachens.
"Das kann ich nicht, Sir...", antwortete Lignus ängstlich und wich zurück. Der Schwanz des Drachen schwang bedrohlich hin und her, bis er schließlich gegen die außenwand donnerte. Die Fensterscheiben zerbarsten klirrend in hunderte kleine Scherben, aber das Mauerwerk hielt Stand. Das machte Arco noch wütender.
"Versuch es wengistens!"
Auch Professor Donar klang wütend, jedoch hektisch – wütend.
Lignus stand mit gebührendem abstand hinter dem mächtigen Körper des Drachens und haderte mit sich selbst. Ein Versuch konnte ja nicht schaden... in der Patsche steckte er so wieso schon.

"Ehm... Arco?", fragte er vorsichtig.
Der Drache tracktierte weiterhin die Wand.
"Kannst du bitte... Arco?"
Arco holte tief Luft.
"ARCO!", überwandt sich Lignus und brüllte, so laut er konnte. Mit einem Ruck wandte Arco seinen schuppigen Hals herum und fixierte Lignus mit zornerfüllten gelben Augen. Na toll.
Ihm blieb keine Zeit zum Nachdenken, denn als sich der Teppich unter seinen Füßen selbständig machte, wurde Lignus unsanft auf den Boden befördert.
Arco beobachtete, interessiert, wie sich der dunkelrote Läufer gleich einer Kobra aufrichtete und bedrohlich flatterte. Dann attackierte das belebte Textil den Drachen und wickelte sich fest um seinen Leib. Mit einer unnatürlichen Kraft und Festigkeit, die kein normaler Teppich auf dieser Welt besitzen konnte, umschlang Professor Donars Schöpfung den Rumpf des drachen und zurrte seine Beine zusammen, bis Arco unter Winden und gegen den Teppich ankämpfend einknickte und langgestreckt auf dem Boden lag. Doch das würde sich der Drache nicht so einfach gefallen lassen.
Er schaffte es, eins seiner Vorderbeine zu befreien und stemmte sich auf, um einen weiteren Feuerschwall auf den Magier zu schicken. Wieder einmal war der mit seinem Schild schnell genug. Man ist nicht ohne Grund Vizerektor einer Magierschule.
Mit einem großen „Rrrratsch!“ riss Arco seine Bandagierung auseinander, als er seine Flügel ausbreitete. Schild und Transformation gleichzeitig war kein Ding der Leichtigkeit, musste der Magier feststellen. Er war wohl etwas aus der Übung...
Diesmal würde er sich zuerst die Schnauze des Drachen vornehmen. Wie gut, dass der Korridor so lang war. Mit einer ausholenden Bewegung befahl Professor Donar dem Teppich hinter sich, herbei zu kommen. Arco sperrte das Maul auf. Er sah, wie geschätzte Hundert Meter Stoff Falten schlugen und Staub aufwirbelten, als sie auf ihn zu schnellten. Hinter ihm eilten Schritte den Gang herauf. Mehrere erwachsene Magier waren als Verstärkung angekommen.
Churel saß auf dem zerstörten Fensterrahmen und krächzte ihn an. Zeit zu gehen. Er schickte einen Feuerball Richtung Teppich, dann in die allgemeine Richtung hinter sich, riss die bereits stark lädierte Außenmauer des Schlosses ein und trollte sich hinaus in die kalte Dunkelheit. Als die Magier ihre Zauber nach ihm schleuderten, war nur noch die dornenbewehrte Schwanzspitze zu sehhen, bevor auch sie in die Nacht verschwand. Irgendwo aus den Wolken hervor konnte man noch den Phönix krächzen hören. Professor Donar klopfte die Flammen aus, die an seinen Ärmeln züngelten.
„Immerhin ist es nur ein kleines Loch. Danke für die Ablenkung, Lignus.“
Aber als der Magier den Blick hob, sahen ihn nur die zur Hilfe geeilten Kollegen an. Von seinem Schüler fehlte – auch nachdem sich der Qualm gelegt hatte, jede Spur.

 

Es fiel Lika schwer, von der Burg aufzubrechen, nachdem sie gerade erst ihre Verteidigungsmaßnahmen provisorisch und mehr schlecht als recht abgeschlossen hatten und Sadira und Nea immer noch nicht von ihrer Prüfung zurück gekehrt waren (mal ganz im Ernst – was trieben die so lange?!), aber einer musste dem Amt auf die Zehen treten und dem sah sie sich eher gewachsen als der Aufgabe, die Burg von einer Horde gesetzloser Aufrührerischer mit einem exzentrischen Geschmack, was die Wahl ihrer Haustiere anging, zu beschützen.
Also ließ sie sich von Tinka und Mr. Quirr auf ihrem Rückweg zum Polizeipräsidium in jener Hintergasse absetzen, in der sie sich bereits zwei Mal aufgehalten hatte: Dem Besuchereingang zum ASN-Regierungstrakt. Diesmal war es stockfinster und nur gedämpft drang der Lärm einer größeren Straße in die Sackgasse, so dass Lika jedes verdächtige Geräusch, das von den Bergen aus Gerümpel an ihr durch die Dunkelheit besonders aufmerksames Gehör drang, sofort misstrauisch werden ließ. Es ärgerte sie, dass sie sich noch nicht einmal selbst Licht machen konnte wie gewisse andere Ritterinnen und fragte sich auch, warum das ASN keine Straßenlaternen installierte. Das grenzte fast schon an Diskriminierung. Aber da sie bereits dagewesen war, wusste sie, dass sie nicht nach einer Tür oder Klingel suchen musste, also versuchte sie einfach ihr Glück, trat vor an die Mauer und klopfte dagegen.
„Hallo? Ich möchte bitte mit dem Chef sprechen.“
Es geschah nichts.
Dann ploppte ein Licht an. Es war gerade hell genug, um ein halb abgerissenes Plakat lesen zu können, das vor langer Zeit an die Wand geklebt worden war. Das kräftige Papier hatte auf wundersame Weise so der Witterung standgehalten, dass darauf noch die schmucklose schwarze Type zu sehen war, in der eine Nachricht für den wartenden Amtsbesucher auf das Blatt gedruckt worden war:
~geschlossen~
Sie erreichen uns ohne Termin& außerhalb der Öffnungszeiten. Bitte kommen sie angemeldet zu den unten stehenden Öffnungszeiten wieder.

Mo-Fr 9-12
Mo-Do 14-16.30


Natürlich – außerhalb der Öffnungszeiten. Aber so leicht gab Lika nicht auf. Sie klopfte erneut.
„Eine Abgesandte der Ritterinnen möchte den Chef sprechen. Es ist dringend!“
Die Botschaft auf dem Plakat vergrößerte sich um einige Einheiten und nahm jetzt klar und deutlich sichtbar das ganze Papier ein.
Lika pochte fester gegen die Mauer und rief:
„Aufmachen, bitte! Es geht um das Verschwinden des Generalsekretärs!“
Sicher, dass sie jetzt etwas erreichen würde, spielte sie diesen Trumpf aus. Die Schrift auf dem Plakat verblasste. Doch kurze Zeit später wuchsen neue Buchstaben wie Schimmel aus dem Papier hervor.
„Sie befinden sich unerlaubterweise auf einem Grundstück im Besitz des Amts zum Schutz für Normalsterbliche. Verlassen sie das Grundstück unverzüglich. Von angemessenen Maßnahmen gegen ihre Person wird gesetzmäßig Gebrauch gemacht.“
Schön, dachte Lika. Dann würde sie ja gleich beachtet werden. Sie hob ihre Hand, von der Warnung unbeeindruckt und wollte ihrer Entschlossenheit erneut Ausdruck verleihen, als das Klappern von Pferdehufen vor dem Eingang der Gasse her erklang, gefolgt von dem Rattern vierer Räder einer Kutsche. Die Tür öffnete sich und zwei feine Damenschuhe sprangen fast gleichzeitig auf den nachtfeuchten Asphalt, die zu niemand anderem als der erst vor kuzem nach Hause gekehrten Hellseherin Karmesin gehörten.
„Fräulein Lika! Was für ein Zufall dass ich sie hier getroffen habe!“
Karmesin kam mit eiligen Schritten auf sie zu.
„Zufall.“, wiederholte Lika in einem Tonfall, der keinen Zweifel ließ, dass sie der Dame nicht glaubte.
„Ja, ich war unterwegs etwas Luftschnappen.“
„Sie waren „Luftschnappen“ in einer Kutsche von Phipspaats, mit fliegenden Pferden, entschlossen, dass hier ein toller Platz zum Landen wäre und baten den Kutscher genau hier zu halten, vor dieser Sackgasse. Aus Zufall.“
„Ja“, nickte Karmesin freudestrahlend.
„Dann wünsche ich noch eine gute Weiterfahrt“, beendete Lika die Unterhaltung und hob erneut die Hand zum Anklopfen.
„Das ist keine gute Idee. Wollen sie nicht lieber eine Runde mit mir drehen?“
Die Frau hatte Likas Arm mit beiden Händen ergriffen und hielt ihn – immer noch lächelnd – fest.
„Arbeiten sie vielleicht auch für das ASN? Auf wessen Seite stehen sie überhaupt“, wollte Lika übelgelaunt (und dadurch vielleicht etwas überreagierend) wissen und zog ihren Arm zurück.
„Es gibt keine Seiten. Nur Kieselsteine, die ein Stück lang den gleichen Weg rollen“, war Karmesins gut gelaunte Antwort.
Drogen. Irgendwoher mussten die Visionen ja kommen. Karmesin hatte ganz sicher ein Drogenproblem.
„Ich weiß nicht, wen sie hier vom Amt erreichen wollen, aber nach 16.30 wird sicher keiner für sie Zeit haben. Glauben sie mir, ich spreche da aus Erfahrung. Sie würden ihre Zeit besser investieren, wenn sie mit mir kommen würden.“
„Wieso sollte ich das?“
„Sie wollen doch wissen, wo ihre Freundin hin ist, oder?“
Likas Augen weiteten sich.
„Sie wissen, wo Thalia ist?“
„Nein“, gab Karmesin zu, „Aber ich bin sicher, das werden sie selbst rausbekommen, sobald ich es ihnen beigebracht habe.“
Mit einem Wink der Herausforderung, ihr zu folgen, ging Karmesin zu wartenden Kutsche zurück. Bevor sie einstieg, drehte sie sich zu Lika herum, geduldig wartend. Lika betrachtete zögernd das beschienene Plakat, auf dem die Warnung des ASN jetzt aufblinkte.
„Ich hätte doch einen Schirm mitnehmen sollen. Ich glaube, es gibt wieder Regen“, meinte die Hellseherin mit einem Blick gen Himmel.
Glauben sie, ja?“, grummelte Lika und setzte sich in Bewegung.
In der Kutsche war es trocken und warm, aber nicht besonders hell. Kaum hatte Lika auf einem der Ledersitze Platz genommen, ließ die Kutscherin die Zügel schnalzen und die Pferde trabten los. Nach einer kurzen Strecke Rumpeln setzte sich das Gefährt von der Straße ab und nahm Kurs in den Himmel auf.
„Okay... jetzt sitze ich hier!“, stellte Lika laut fest und trommelte ungeduldig  mit den Fingerspitzen auf ihr Knie. In der unbeleuchteten Kutsche konnte sie nur ungefähr ihr Gegenüber ausmachen. Karmesin lächelte und schaute aus dem Fenster.
„Und wohin fliegen wir jetzt?“, versuchte Lika erneut und etwas deutlicher Kontakt aufzunehmen.
„Sollte man das nicht fragen, bevor man in eine Kutsche einsteigt?“
„Ach, ich verstehe! Das ist so eine „ich lasse mich von meinem inneren Auge leiten“ - Fahrt“, seufzte die Ritterin. Entweder das oder Karmesin war in Wirklichkeit eine verdeckte Agentin und holte gleich ein Messer hervor um Lika abzustechen... bei genauerer Überlegung war das eine Möglichkeit, die erschreckend Wahrscheinlich war...
„Nein. Ich finde nur, dass man sich auf Kutschfahrten besonders gut unterhalten kann“, winkte Karmesin ab. Likas Bauchgefühl reagierte bei dieser Antwort, ein Anzeichen, dass Karmesin ihr etwas verheimlichte.
„Ach! Der Wohnblock da unten hat aber einen interessanten Grundriss! Sehen sie mal!“
Karmesin hing jetzt mit dem Gesicht an der Scheibe und bewunderte die nächtliche Stadt unter ihnen.
„Ich bin nicht für eine Stadtrundfahrt aufgelegt und habe wirklich besseres zu tun. Wenn ich mit Thalias oder Sadiras Kräften ausgestattet wäre, würde ich jetzt einfach aus der Kutsche springen!“
Karmesin wandte Lika langsam wieder das Gesicht zu. Und das belustigte Grinsen darin gefiel ihr überhaupt nicht.
„Aber sie können nicht zaubern und nicht kämpfen. Man könnte sagen, sie sind ziemlich harmlos. Was für eine „Ritterin“ sind sie überhaupt?“
Lika öffnete den Mund und schloss ihn wieder, ohne ein Wort gesagt zu haben. Sah sicher bescheuert aus.
„Sie liegen zweimal falsch“, sagte Lika, die auf wundersame Weise ihre Ruhe wieder gefunden hatte, „aber da sie gefragt haben: Ich bin die Ritterin der rostigen Gabel.“
Sie griff an ihren Hals und nahm den gabelförmigen Anhänger von ihrer Kette. Nach einer kurzen Abschätzung,ob der Platz in der Kutsche ausreichen wurde, erlaubte sie der Waffe, ihre wahre Gestalt anzunehmen. Zwischen ihre Knie geklemmt strahlte Likas Dreizack ein blassblaues, entspanntes Licht aus. Das Licht kam von Karmesin, die, ohne es zu wissen, tripple spirals zweite Kraft beheizte: Die Fähigkeit, die das Orakel des Reitervolk sich für Lika gewünscht hatte.
„Sehr eindrucksvoll“, nickte Karmesin.
„Sie haben keine Ahnung, was das Ding kann.“
„Zugegeben: Nein.“
„Dachte ich mir.“
Die Kutsche ruckelte etwas, als die Kutscherin eine weitere Schleife flog. In Karmesins blassblaues Licht mischte sich ein fließendes Silber, der Farbton tiefer Konzentration.
„Am Anfang ging es mir genau so. Ich meine: Alle anderen Waffen leuchte ja irgendwie ein – ein Stab der Blitze schießt oder ein Armschutz, der das Dunkel erhellt.... aber ein Dreizack, der lustig bunt leuchtet? Ich konnte nichts damit anfangen. Und dass Calla mir verschwiegen hatte, dass das Ding früher mal einem Orakel gehört hat, hat auch nicht gerade weiter geholfen. Ich stand stundenlang in der Gegend und habe so Späße versucht wie Energien bündeln in der Hoffnung, dass irgendetwas passiert!“
„Und – ist irgendetwas passiert?“, fragte Karmesin interessiert.
„Nein, aber ich sah höchstwahrscheinlich ziemlich bescheuert dabei aus. Irgendwann gingen mir die Ideen aus und ich holte einen befreundeten Ingenieur und Chaologen dazu. Grischmo – ich weiß nicht, ob sie ihm auf der Burg begegnet sind, er hat Pelz und zwei Spitze Ohren mit einem Goldring? Jedenfalls fand er die Waffen auch sehr interessant. So interessant, dass alles, was er darüber von sich gab, keinen Sinn mehr machte. Genies sind so. Einfach nicht kompatibel mit uns Laien.“
Karmesin nickte verständnisvoll.
„Und er hat herausgefunden, wie der Dreizack funktioniert?“
„Nein. Ich bin darauf gekommen, weil Sadira sich einen Spaß gemacht hat, Grischmo bei seinen Monologen hinter dem Ohr zu kraulen, was ihn immer unterbrach und  in entspanntes Schnurren ausbrechen ließ. Und immer genau in diesem Moment hat sich auch die Farbe des Lichts verändert.“
„Die Farbe zeigt also die Stimmung einer Person an?“
„Ich würde es eher als Gesinnung bezeichnen, aber ja. Das war die letzte Programmierung der Waffe.“
„Programmierung?“
Lika verkleinerte tripple spiral nach dieser kurzen Demonstration wieder und verstaute sie um ihren Hals.
„So würde ich es jedenfalls bezeichnen. Meine Vorgängerin hat diese Funktion für mich bestimmt. Davor wurde der Dreizack zum Hellsehen verwendet. Und scheinbar funktioniert das immer noch. Wo wir wieder beim Thema wären.“
Karmesin hatte etwas die Augen verengt um das Gerät in der Dunkelheit weiter zu betrachten.
„Ja... interessant. Darf ich etwas fragen? Wieso eine Gabel?“
Lika stieß auf die Frage einen kurzen Lacher aus.
„Es ist ein magischer Gegenstand. Wieso also eigentlich nicht? Auch alle anderen Waffen imitieren ein Besteckstück. Wir haben schon viele Vermutungen angestellt. Vielleicht war damals gerade nichts anderes zur Stelle. Vielleicht ist es ein Statement: Frauen, die die Küche verlassen. Oder vielleicht hat es tatsächlich einen Zweck. Wenn man Gegenstände mit einem Zauber belegt – wenn es denn einer ist, Grischmo hört das nicht so gerne – funktioniert er meistens mit gewöhnlichen, praktischen Gegenständen am besten, denn man ist es gewohnt mit ihnen zu arbeiten.“
Karmesins Augenbrauen zogen sich stärker zusammen und ihre Unterlippe schob sich etwas hervor. „Und sie sagten, sie hätten wirklich die Zukunft sehen können, mit einem Bild vor ihren Augen?“
„Nicht nur als Bild – es war ein Film. Ach was – ich war dort! Es war, als würde ich jemanden beobachten, der mich allerdings nicht bemerkt. Und im nächsten Moment war ich wieder zurück in der Gegenwart.“
„Ich bezweifle, dass sie körperlich in die Zukunft gereist sind, aber alles andere ist wirklich wunderbar! Ich habe zwar schon jede Menge Vorhersagungen gemacht, die gestimmt haben, aber ich habe noch nie die Zukunft tatsächlich gesehen. Manchmal komme ich mir vor wie ein zukunftstaugliches Faxgerät. Manchmal blättere ich meinen Kalender durch und finde Termine, die ich in einem Trancemoment eingetragen habe...“, sagte Karmesin.
„Zum Beispiel Kutschfahrt mit Ritterin?“
„Ganz genau“, nickte Karmesin, „Was ich damit sagen will: Sie und ich nehmen die Zukunft ganz unterschiedlich wahr. Vielleicht hat die Form ihrer Gabel etwas damit zu tun.“
„Sollte ich es einmal mit einer Kugel versuchen?“, fragte Lika und Karmesin musste lachen. „Die Kugel hat nichts mit meiner Fähigkeit zu tun. Sie ist ein Handschmeichler. Sie hilft mir, mich zu konzentrieren. Aber ihre Gabel könnte eine Antenne sein.“
Könnte sie?
„Jetzt wo sie es sagen... die andere Fähigkeit funktioniert ja ähnlich.“
Karmesin holte eine Taschenuhr hervor und hielt sie ins Fenster, bis sie eine Uhrzeit erkennen konnte.
„Das können wir gleich ausprobieren, aber ich muss einen kurzen Zwischenstopp machen. Ich brauche einen Kaffee. Wie sieht es aus?“
Lika zuckte mit den Schultern. Ein koffeinhaltiges Heißgetränk konnte angesichts des noch jungen Tages sicher nicht schaden.
„Ich kenne da einen wunderbaren Kiosk, der die früh arbeitende Bevölkerung von Unter Kreisen versorgt...“
Karmesin kniete sich auf ihren Sitz und öffnete das kleine Fenster in der vorderen Kutschenwand, um ihrer Fahrerin die neue Destination mitzuteilen.
Nach kurzer Zeit hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Sie hielten direkt vor einem kleinen Häuschen am Rande eines Parks, das über und über mit Magazinen und der Tagespresse behangen war. Die Straßen waren noch wie leergefegt, aber ein Herr mit Halbglatze und in Bademantel unterhielt sich angeregt mit der Kioskbesitzerin hinter ihrem Fenster. Lika sprang nach Karmesin aus der Kutsche und kramte in ihren Taschen nach Kleingeld.
„Nicht doch, geht auf mich!“, wurde sie auch schon von Karmesin eingeladen. Sie bestellte für die Kutscherin ebenfalls einen Kaffee und während sie warteten, schweifte Likas Blick über die Auslage des Kiosks.
„Oh, wow. Das ging aber schnell!“, rief Karmesin und deutete auf die frisch gedruckte Morgenzeitung „Frühe Taubenpost“. Erst dachte Lika, die Hellseherin meinte das zeitige Erscheinen der Tageszeitung an diesem Morgen, aber dann las sie die Titelzeile und auch ihr klappte der Mund herunter.
„Verantwortung für begangene Fehler übernehmen“ - Chef tritt zurück
Unter Kreisen. Vor wenigen Minuten hat der Chef vor versammelten Vertretern der Presse seinen Rücktritt bekannt gegeben. Eine Woche voller Pleiten, Pech und Pannen liegt hinter dem ASN. Nachdem bereits vor dem Turnier des gemeinsamen magischen Reiches Stimmen der Kritik am Organisationsgeschick unseres allordnenden Amtes laut wurden, kam es Vorgestern, am letzten Tag der Festlichkeiten zum Eklat. Wie wir berichteten, störten Unbekannte durch einen terroristischen Akt massiv die Festlichkeiten, verwüsteten weite Bereiche des Turniergeländes und töteten zahlreiche Sicherheitskräfte. Es entstand Schaden in Millionenhöhe. Auch nach diesem verbrecherischen Akt glänzte das Amt mit Unfähigkeit. Noch 24 Stunden nach dem Vorfall war kein Polizeisprecher zu einer Stellungnahme fähig. Wer von Verwaltungsseite etwas bessere Koordination erwartet hatte, wurde derbe enttäuscht. In diesen chaotischen Zeiten wurde der Chef des Amtes von seinem besten Mann im Regen stehen gelassen: Von André Hibis, dem langjährigen Generalsekretär des ASN fehlt seit genau jenem Ereignis jegliche Spur. Das letzte Dokument seines Aufenthalts stellen Paparazzifotos aus der Finalrunde des Lanzenreitens dar. Seitdem ranken sich allerlei Gerüchte um das Verschwinden des Mannes, der bisher sein Team sicher durch alle Untiefen der Regierungszeit gelenkt hatte. Sicher ist nur: Mit dem Lotsen von Bord sieht sich der Chef nicht mehr fähig, die Regierungsaufgaben auszuführen und übernimmt Verantwortung durch die Niederlegung sämtlicher politischer Ämter. Damit geht eine Ära zu Ende. Die Amtszeit des Chefs hätte in einigen Jahren runde 40 Jahre erreicht. - Kommentar auf Seite 3

Lika schlug die Zeitung auf und las weiter.

Definitionsschwierigkeiten: Was ist eigentlich Verantwortung?
Für viele kommt die Nachricht über den Rücktritt des Chefs nicht unerwartet. Schon seit Jahren war die Luft raus, aus seiner Regierung. Die Fehler, die begangen wurden, sind so zahlreich, dass sie diesen Kommentar sprengen würden. Sein größter war für ihn jedoch wahrscheinlich sein letzter: dass er sich nicht genau so plötzlich mit seinem Generalsekretär (der die Zeichen der Zeit scheinbar besser zu deuten wusste) aus dem Staub gemacht hat, wie er vor Jahrzehnten aus dem Stamm der jungen Beamtenschaft wie aus dem Nichts hervor gekommen war. Verantwortung? Ich sehe keinerlei Verantwortungsbewusstsein darin, dass man einen Scherbenhaufen produziert und diesen andern, fähigeren Mitarbeitern zum Aufwischen liegen lässt. Dass jemand Fähigeres nun das Amt aufnimmt, bleibt zu hoffen. Jedoch bin ich sicher, dass sich in den Reihen der tüchtigen Bevölkerung jemand findet, der besser für die Regierungsaufgabe geeignet ist als ein spitzohriger Schwätzer und ein verpennter Fettwanst. Ich habe Vertrauen in die Säulen, die schon immer die Gesellschaft von Unter Kreisen gestützt hat: Die finanzkräftige Lordschaft, der geschäftstüchtige Mittelstand und die vielbegabte magische Bevölkerung. mkl.

„MKL?! Wer ist dieser mkl und wer bezahlt ihm GELD für so einen hirnverbrannten Müll?!“
Lika faltete so energisch und knitterfrei wie gleichzeitig möglich die Zeitung wieder zusammen.
„Hey!“, meldete sich die Kioskbesitzerin mit herber, von Zigarettenqualm gegerbter Stimme, „erst kaufen – dann lesen!“

Sadira hätte im Moment viel für eine Zeitung bezahlt, denn sie langweilte sich praktisch zu Tode. Sie hatte ihre Ritterinnenprüfung schon in der Mitte des Tages abgeschlossen gehabt und konnte den Spruch, der unter ihrem Portrait erschienen war (sie fand das Bild so la – la...) inzwischen auswendig:

Es war einmal eine Ritterin,
die war die beste Streiterin des Reiches.
Ihre Angriffe waren blitzschnell, sie kannte
die Richtung und das Ziel.
Wenn sie kämpfte, kämpfte der Himmel
mit ihr.
Ihr Name war Sadira.

Der Text hatte ihr beim ersten Mal Lesen ein Grinsen auf die Lippen gezwungen, aber jetzt beschäftigte sie etwas anderes. Wo blieb Nea? Bei ihrer Prüfung war die Kacke schon ordentlich am Dampfen gewesen und die Diebin war immer noch da drin?
Die Kommandantin der Kavallerie hatte ziemlich losgelegt mit Blue Walker, aber alle Blitze der Welt hätten nichts gegen die Angreifer ausrichten können. Die Frau starb an der Frontlinie, ohne die Königin über den Verrat der Tosaren warnen zu können und gab Sadira deshalb die Fähigkeit des Teleportierens mit. Hatte sie auch schon wunderbar verwenden können. Jetzt im Moment benutzte sie die rostige Kuchenschaufel um immer von der einen Säule des Sakralraums zur anderen zu porten. Calla, die im Sich-langweilen schon ziemlich geübt war, sah ihr interessiert dabei zu.
„Ich warte darauf, dass du in die Säule portest. Wäre das nicht lustig?“
„Ich kann ja mal in dich porten. Wäre das nicht lustig?“
„Warum so bissig, kleine Sadira? Du bist mir immer noch böse wegen der Drachen, mh?“
„Zufällig, ja.“, antwortete Sadira auf eine für sie ungewöhnlich spröde Art. Sie war genau in der Mitte vor den Ritterinnentafeln stehen geblieben. Ihr kam eine Idee.
„Sag mal – ist der Fettelklops von mir noch in der Burg?“
„Ja.“, murmelte Sadira, „... und wir sollten auch schnell wieder dorthin.“
„Wieso portest du nicht?“
„Geht nicht. Außerdem ist Nea noch nicht fertig. Sag mal – wie bist DU damals hier her gekommen? Ist nicht der Weg verschlossen? Und du hättest über die Burg herkommen müssen. Hattest du von dem Durchgang gewusst? Hast DU die Anzeige geschaltet?“
Calla verschränkte empört die Arme. „Hast du Töne! Frag doch noch mehr auf einmal! Nein, ich habe keine Anzeige geschaltet. Was für eine Anzeige?! Und ich wusste natürlich von dem Durchgang. Ja – er ist versperrt.“
„Calla – was kann Dragon Ax wirklich schneiden?“
Sadiras Frage war so ernst gestellt, so scharf formuliert, dass Calla schwieg, denn sie hatte Angst vor einer falschen Antwort. Es ist offensichtlich, dass das rostige Messer die Fähigkeit hatte, durch Drachenhaut zu schneiden, aber weiter?
„Ich kenne jemanden mit einem ähnlichen Schwert.“, fuhr Sadira fort, als keine Antwort kam, „und es ist ein sehr gefährliches Teil. Viel Potential. Viel potentielle Gefahr. Man kann damit kurzzeitig Wände zwischen den Welten einreißen. HAST DU SO EIN SCHWERT?“
„Komm runter, okay?“
Calla war jetzt im kompletten Verteidigungsmodus.
„Ich bin schon mal hier her gekommen, weil ich in einer tödlichen Situation war. Hab mit nem Drachen gekämpft. War ne blöde Geschichte. Er wollte mich zu Mus quetschen und plötzlich war ich hier. Steckte fest. Ich kam nicht zum Tor raus, wie sehr ich es auch versuchte.“ Sie deutete auf das große, verzierte Tor, das der eigentliche Eingang zum Prüfungsraum war, „und habe die Luke zum Ballsaal gefunden. Aber im ganzen Schloss war nichts zu essen außer Dörrfleisch und vergammelter Sachen. Ich dachte schon, ich muss verhungern.“
„Und dann?“
„Dann hab ich mich hier rein gesetzt und geheult. Hab Sachen mit den Lichtsäulen ausprobiert. Und kam zu meiner Prüfung. Hinterher war ich schlauer, steckte aber immer noch fest. Immerhin war Dragon Ax damals nicht kaputt. Also hab ich weiter versucht das Tor aufzukriegen. Ich schwang das Schwert zum xten Mal und plötzlich war ich wieder zu Hause.“
Der Blick, den Sadira jetzt auflegte, war halb warnend, halb beunruhigt.“
„Ich sage die Wahrheit! Ich hab keine Wände eingerissen oder so!“
„Vielleicht hast du das doch. Unser Goldohr meinte gleich, dass ihm die Funktionsweise der Waffen bekannt vorkam. Wann war das?“
„Kurz bevor ihr aufgetaucht seid.“
„Vielleicht genau als wir aufgetaucht sind“, vermutete Sadira.
Sie wiegte Blue Walker in den Händen und ihre Idee verfestigte sich.
„Du wartest hier!“, sagte sie zu Calla.
„Was du nicht sagst“, war ihre schnippische Antwort, „und was machst du?“
„Möglicherweise etwas Unmögliches.“
Sie stellte sich und Blue Walker aufrecht hin, schloss die Augen, das kühle Metall der Lanze berührte ihre Stirn und sie war verschwunden.

Sadira hatte es immer einfacher gefunden, mit geschlossenen Augen zu teleportieren. Es geschah so plötzlich, dass man selbst für einen Einschnitt sorgen musste, etwas, das den alten Ort vom neuen trennte, damit das Gehirn damit zurecht kam.
Als sie die Augen wieder öffnete, war die drückende Wärme des lavagefüllten Prüfungssaals verschwunden. Aber als sie nach rechts sah, sah sie noch immer das große Tor. Sie sah es jedoch von der anderen Seite. Jemand schluchzte leise. Sie sah zur anderen Seite. Da saß eine Frau vor einem weiteren Tor. Eine kreisrunde Malerei, auf der zwei Burgen abgebildet waren, die von einem Reigen Pegasoi umkreist wurden, gab ihr einen wichtigen Eindruck. Der Boden vor der Tür war komplett verschlammt mit dem Dreck von zahllosen Schuhen. Die Frau hockte darin und kümmerte sich nicht um die Sauerei.
„Sadira?“
Sadira drehte sich um. Nea stand hinter ihr. Oder nicht ganz. Genau wie sie selbst, schwebte sie ganz leicht über dem Boden.
„Wie kommst du hier her?“
Sadiras Mundwinkel zuckten. Das war verrückt. Aber sie hatte es geschafft. Sie war in Neas Ritterinnenprüfung gelandet.
„Ich wollte etwas ausprobieren. Oder nein. Natürlich bin ich hier, um dich abzuholen. Lass uns gehen.“
Nea seufzte. Unbehagen spiegelte sich in ihrem Gesicht.
„Kannst du Gedanken lesen? Ich dachte gerade, dass ich hier unbedingt wieder abhauen muss. Kennst du sie? Das ist meine Vorgängerin. Die Tempeldienerin.“
Sie zeigte zu dem Häufchen Elend, das an der Wand gekauert da saß, Trapper fest umschlungen hielt und in sich hinein weinte.
„Sie hat die Evakuierung überwacht. Bis niemand mehr nachkam. Sie hat sich von der Königin verabschiedet. Die Königin ist hier geblieben. Sie wollte sich den Angreifern als letzte stellen. Und sie – sie ist in diesen Raum gegangen, hat alle Türen verriegelt und sich hingesetzt. Seitdem sitzt sie hier.“
Sadira hob eine Augenbraue. „Aha? Ist das nicht etwas kontraproduktiv? Warum ist sie nicht hinterher?“
„Sadira… ich weiß jetzt, warum meine Waffe „Trapper“ heißt. Sie kann nicht nur Schaden abblocken – sie kann versiegeln. Aber es gibt nur eine Möglichkeit einen Weg in alle Richtungen zu versiegeln.“
„Indem man sich selbst einschließt? Das ist dämlich. Sag mir nicht, dass sie hier geblieben ist, um zu verhungern.“
„Ich will es wirklich nicht herausfinden. Aber ihre Anweisung war, zu verhindern, dass Angreifer hinaus kommen und dass das Volk wieder hineinkommt. Sie sitzt seit einem halben Tag hier. Vor einer Stunde hat sie angefangen zu weinen. Sadira, was soll ich tun?“
Sadira trat vor die Frau, die sie weder sehen, noch hören, noch sonst wie wahrnehmen konnte.
„Hat sie einen Wunsch für dich ausgesprochen?“
Nea schüttelte den Kopf und ließ sich an der Wand entlang auf den Boden sinken.  
„Hey!“, sprach Sadira die alte Ritterin an, „Im Gegensatz zu dir haben wir noch was vor, also könntest du dich beeilen und deiner Kollegin hier den Wunsch mitteilen?“
Weiteres Schluchzen war die einzige Antwort, die sie bekam.
Nea schüttelte wieder den Kopf. Ihr kam Sadiras Verhalten nicht nur sinnlos, sondern auch herzlos vor.
„Es kann ja wohl nicht der Plan von euch Ritterinnen gewesen sein, uns wegen einer Prüfung hier tagelang festzuhalten. Das ist absoluter Schwachsinn.“
„Vielleicht war genau das der Plan!“, mischte sich die Diebin in Sadiras Scheindialog ein. „Die letzten Tage der Ritterin zu erfahren – ihre Schmerzen und Ängste auszustehen, damit wir gewappnet sind!“ Sie hatte sich erhoben und war an Sadiras Seite gekommen, um sich vor ihrer Freundin für ihre Vorgängerin einzusetzen.
„Aber“, begann Sadira, als die Tempeldienerin ihren Kopf hob um Nea genau ins Gesicht zu blicken. Ihr Gesicht war tränenüberströmt, der letzte Funke Hoffnung hatte sie vor einer Weile verlassen. Sadira verstummte auf der Stelle. Was war das für ein Zustand, auf den Tod zu warten? Nicht doch noch im letzten Wachen Moment von der Verzweiflung gepackt die Flucht zu suchen?
Der Blickkontakt stand wie ein feiner silberner Faden zwischen den Ritterinnen zweier Generationen. Der Mund der Tempeldienerin öffnete sich.
„Ich will hier raus.“
Nea nickte. Sie griff nach der Waffe und obwohl sie hindurchgriff, löste sich eine gestaltliche Form von Trapper und befand sich jetzt in ihrer Hand.
„Oh, Mann.“, war nur Sadiras überraschte und begeisterte Reaktion. Diese die vierte Wand durchbrechenden Vorgänge waren genau nach ihrem Geschmack.
„Dann wollen wir für dich aufmachen“, gab Nea sich einen Ruck.
„Nicht diese hier.“ Sadira hielt ihren Arm fest, als sie Trapper hob, um an die reich verzierte Tür zu klopfen.
„Lieber die andere…“
Nea nickte. Sie durchquerten das Allerheiligste und bevor sie das Tor zum Prüfungsraum öffnete, schaute sie noch einmal zurück. Die Ritterin saß wieder genau wie vorher an der Wand, abgekehrt von der Welt. Sadira legte ihrer Freundin die Hand auf den Rücken, öffnete das Tor und als sie sie hindurchschob, waren sie wieder vor den Ritterinnenportraits angekommen.
Eine aufgeregte Calla kam auf sie zu.
„Mach das nie wieder. Das war gruselig!“
Aber Sadira hörte nicht auf sie. Hatte Nea die Prüfung bestanden? Der Text, der jetzt unter ihrem Portrait erschien, gab Antwort darauf:

Es war einmal eine Ritterin,
die war die berüchtigtste Diebin im ganzen Land.
Sie kannte jedes Gift, kam in jeden Raum
und durchschaute jeden Plan.
Auch du wärst ihr in die Falle getappt.
Ihr Name war Nea.





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