31 Vom Jäger zum Gejagten

32 Nicht mehr zu retten?!

33 Getrennte Wege

34 WWAD?

35 Lasst uns eine Vermissten – Anzeige aufgeben!

36 Jemand, der arbeitet!

37 Die Prüfung

38 Von hier an wohin weiter?

39 Horch, was kommt vom Walde her

40 Macht das nicht zu Hause nach, Kinder!

 

Vom Jäger zum Gejagten


„Warum genau müssen wir nochmal durch diesen dunklen, engen Geheimgang kriechen?“, knarzte Sadira (ein weiterer Schritt auf ihrem Weg zur Verwandlung in eine Tür) und wischte sich eine Spinnwebe aus dem Gesicht.
„Ich erkläre es dir ein letztes Mal...“, seufzte Nea.
„Schon gut, schon gut... wir müssen diesen Necro-Futzi ausfindig machen, weil der so ein Ding hat, mit dem er über die Assassinen befiehlt und die nicht vorher aufhören unschuldige Leute umzubringen...“ Die Verluste waren sicherlich auf beiden Seiten hoch. Immerhin befanden sich im Moment ziemlich gute Zauberer und Kämpfer im Gebäude.
„Die könnten mal ihre Geheimgänge sauberer halten.“, meldete sich Karmesin.
„Was machst DU eigentlich noch hier?“, fiel Thalia auf einmal auf.
„Bei euch ist es immer so schön spannend...“, gab die Wahrsagerin zu.
„Ruhe jetzt!“, flüsterte Nea, denn sie waren am Ende des Ganges angelangt. Es bestand aus Holz und war die Rückwand einer Vitrine. Man bekam sogar etwas von der Unterhaltung im Raum dahinter etwas mit...

„Ich gab dir genug Wächter! Wie kommst du dazu, zu behaupten, sie hätten dir den Kristall gestohlen?!“ Der Nekromantiker fuhr den Baron, der vor ihm auf dem Boden kauerte, scharf an. Vom Baron war nicht mehr als die wimmernde Gestalt übrig, die er jetzt abgab.
„Aber wenn ich es doch sage... Es war ein K-Kleriker... E-er hat sie alle zurückgeschickt, mit einem Mal waren sie weg...“

„Und warum bist DU noch da?!“, tobte der Bestienritter und trat gegen einen geöffneten und halb gepackten Koffer, der auf dem Boden stand. Scheinbar hatte der Baron versucht zu fliehen, bevor er seinem Meister gegenüberstehen würde.

Er bekam kein Wort mehr heraus, stotterte nur noch, dass er doch unschuldig war.

„Hast du vergessen, wer dich zu dem gemacht hat, der du jetzt bist? Ewige Jugend hat seinen Preis, man kann wirklich nicht von dir behaupten, dass du unschuldig wärst...“ Er machte einen Schritt vorwärts. Der Baron kroch bis nach hinten an die Wand.
„Wo ist der Kristall?“, fragte der Bestienritter bestimmt nicht zum ersten Mal.
„Ich hab ihn nicht...“
„WO – IST – ER?!“

„Sie haben ihn mitgenommen, ich-“
„Aus den Augen!“, fauchte der Nekromantiker kalt und der Baron kehrte zur Asche zurück. Jetzt war er ganz allein im Raum. Nea hörte ihn leise
„André Hibis!“ knurren. Das war die Gelegenheit. Aber vorher brach jemand die Tür ein. „Was willst du?“, hörten sie den Bestienritter barsch fragen.
„Ich bin befördert worden...“, sagte eine andere, gelige Stimme.
„Und?“
„Anscheinend weißt du nicht, was das bedeutet... ich bin jetzt beim Strafkommando...“ Zum ersten Mal hörten sie den Hexenmeister nichts kontern. Stattdessen ein Donnern, Stahl, auf Steinboden. Das Aufbrüllen einer gewaltigen Kreatur.
„Hör auf, dich zu widersetzen. Sterben musst du so wieso.“, war wieder die Stimme des anderen zu hören.
„Ha!“, rief der Nekromantiker aus, „Du kriegst mich nicht. Du hast schon zu Viele auf dem Gewissen.“
„Und du nicht?“
„Doch... aber auf mich hören die Toten!“ Im nächsten Moment war ein Schmerzensschrei vom Mann des Strafkommandos zu hören. „Bringt ihn um! Macht, dass es aufhört, schnappt ihn euch!“

Das nächste, was die Ritterinnen mitbekamen, war, dass die Vitrine zerbarst, weil der Hexenmeister mit voller Wucht dagegen geschleudert worden war. Er lag im Geheimgang, zwischen den Trümmerstücken und zu Neas Füßen. Jetzt konnten sie auch endlich wunderbar in den Raum sehen. Zwei Minotauren standen da, mit riesigen Streitäxten und ein schmächtiger Mann mit hellbraunen Haaren und Brandmalen auf Hals und Gesicht, der sich vor Schmerzen wand. Ihn umgab das Kreischen unzähliger Geister. Der eine Minotaurus kam mit erhobenem Arm auf sie zu und brüllte fürchterlich. Er hatte schon ein blutüberströmtes Gesicht und eins seiner Hörner fehlte.
„Ehm... SADIRA?!!!“, rief Thalia, die schnell den Angriff mit einem magischen Schild abwehrte. Sadira war schon dabei... Im nächsten Moment fanden sie sich in ihrem dunklen Zimmer wieder. Zusammen mit dem Nekromantiker. „Warum hast du den mitgeschleppt?“, wollte Nea von ihrer Freundin wissen. Sadira zuckte mit ihren Schultern.
„Er hat mir Leid getan...“
„Und er muss noch das Kommando zurückziehen!“ Der Mann lag auf dem Boden, auf seine Ellenbogen gestützt, umgeben von den vier Frauen, sein Umhang und der Schulterschutz zerbrochen und zerrissen.
„Das Kommando habe ich nicht mehr!“, sagte er sauer.
„Wenn ihr Glück habt, schafft ihr es lebend zum See.“
Thalia hob eine Augenbraue.
„Der Aufstieg kommt vor dem Fall, was? Scheinbar brauchen sie dich nicht mehr...“ Die Hexe sah zu Sadira.
„Hier kann ich uns nicht rausteleportieren...“ Sie schüttelte den Kopf.
„Ich wüsste ja einen Weg...“, meldete sich Karmesin, „vorausgesetzt, der Spezial-Geheime-Plan C – Notfall-Fluchtweg für Ehrengäste ist nicht auch von den Bestienrittern versperrt.“ „Wir könnten es versuchen.“, meinte der – jetzt – Ex-Bestienritter.
„Moment Mal, „WIR“? Und was ist überhaupt mit Adarwen und Lika?!“ Der Nekromantiker setzte eine düstere Mine auf.
„Denen könnt ihr wohl nicht mehr helfen...“


Nicht mehr zu retten?!


Was sich bei der Schattenfuchsjagd abspielte...

„Gemein!“
„Lika, sag noch einmal „Gemein“ und ich werf' dich mitten im Wald runter!“ Sie standen an der Startlinie, zusammen mit den anderen Gruppen. Arco fand das Pferd rechts von ihm ziemlich interessant/lecker. Lika saß vorne und hatte den Kompass in Verwahrung.
„Sie könnten diesen Schatten wenigstens vorher mal zeigen...“, grummelte sie. Adarwen seufzte.
„Lass uns einfach von A nach B kommen, okay?“

Der Startschuss ertönte, die ersten Pferde preschten durchs Unterholz. Arco, sehr viel intelligenter als ein Pferd, drehte sich um, weil er wissen wollte, was der Knall sollte.
„Bitte, bitte, jetzt lauf schon los...“, sagte die Frau auf seinem Rücken und lächelte freundlich. Hatte Thalia da nicht so was gesagt? Also los. Mit einem tiefen Grummeln spannte Arco die Beinmuskulatur an und sprang los. Adarwen hielt sich schnell an Lika fest und Lika am Drachen.

Warum... durfte er nicht fliegen? Warum nicht, warum nicht, warum nicht?

„Arco! Nicht so unter tief stehenden Ästen durch!“ Grummel...

Sie waren schon eine Weile mitten im Wald. Lika war mit dem Kompass beschäftigt, Adarwen mit der Karte. Kein Teilnehmer sonst war in Sicht.
„Schau mal hinter dich... Siehst du irgendetwas?“ Adarwen schüttelte den Kopf.
„Der Wald ist so dicht. Man sieht nicht sehr weit...“ Lika schnippte mit dem Finger
„Idee!“
„Idee?“
„Idee!, nickte sie und griff mit der Hand nach der rostigen Gabel, die in unaktivierter Miniaturausgabe um ihren Hals hing. Da sie nur eine Hand frei hatte, riss sie einfach die Kette vom Hals. In ihrer Hand verwandelte sich der kleine Anhänger im Nu in den Dreizack triple spiral. Sie zog schnell den Arm ein, um nicht an einem Baum hängen zu bleiben.
„Was genau hast du jetzt vor?“
„Ich suche feindlich gesinnte Energien.“
„Das kannst du?“ „Jepp. Ist aber sehr kraftaufwändig. Wir müssen dann unbedingt ausweichen.“ Sie hielte triple spiral seitlich und sah durch die Gabelspitzen. Sie glimmten jetzt weiß. Wenn sie den Dreizack etwas höher hielt, wurde der weiße Schein rötlich und pulsierte leicht.
„Ein anderer Teilnehmer schätze ich, noch ziemlich weit weg... Huch?“
„Was denn?“, fragte Adarwen unruhig.
„Die Aura ist weg...“ Dass Lika auf einmal erstarrte und gar nichts mehr sagte, fand Adarwen jetzt gar nicht toll. Arco bremste stark. Der Mann, der vor ihnen zwischen den Brombeeren stand, war gar nicht weit weg und ziemlich real.
„Guten Tag, die Damen!“ Sein Lächeln war kühl, seine Haare flachsblond und seine Schuhe waren rot. Hinter dem Drachen stand sein hühnenhafter, grauäugiger Partner.
„Das Edelsteinduo...“, hauchte Adarwen. Die hatten im Turnierplan nicht vorgesehen sein können... Arco schnappte nach Stepper, der sprang nach oben auf einen Ast. Der Schwanzhieb des Drachen verfehlte True Grey nur ganz knapp, er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. „Hört her!“, rief Lika Stepper zu und ihre Stimme klang alarmierend,
„Verschwindet ganz schnell von hier, wenn ihr keinen Ärger wollt!“ Adarwen wollte jetzt wirklich wissen, was los war, als Lika Arco zum Fortlaufen antrieb. Sie preschten einfach unter dem Ast durch, auf dem Stepper stand und sie legten ein Tempo vor, dass sich gewaschen hatte.
„Was ist los?!“
„Also wenn das der „Schatten“ war, den ich da gesehen hab, dann gute Nacht! Leg lieber eversun an!“

„Aber...“, stammelte Adarwen verwirrt, „Er ist noch beschädigt...“
„Wir sollten lieber nicht unbewaffnet diesem Etwas begegnen, glaub mir...“ Widerwillig aktivierte Adarwen den Panzerhandschuh, der ein ganz schönes Gewicht hatte. An der Außenseite hatte er tiefe Risse und man konnte die Finger nicht mehr zu einer Faust ballen. Noch einmal wandte Adarwen sich nach hinten um, Stepper war ihnen auf den Fersen. Mit einem Satz war er vor dem Drachen. Erneut zwang er Arco zum Anhalten.
„Hör auf damit, du Spinner!“ Adarwen hatte Lika noch nie so schreien gehört. Und die Wortwahl war auch ganz und gar nicht Lika.
„Ich werde euch nicht ein zweites Mal entkommen lassen...“, sagte Stepper seltsam ernst, als hätte er es jemandem bei seinem Leben geschworen. Wie durch einen verrückten Zauber stand True Grey wieder in genau der Stellung wie beim ersten Mal hinter Arco.
„Hört mir jetzt mal gut zu, damit das in eure verdammten Schädel geht...“ Likas Stimme war verzweifelt, sie war fast am Weinen,
„Wenn die erst mal da sind, entkommt keiner von uns mehr!“ Stepper sah Lika eine schrecklich lange Zeit einfach nur in die Augen, zweifelnd, verunsichert...

„... du bluffst doch!“
„NEIN, VERDAMMT!“
Sein Blick huschte zu True Grey. Der schüttelte den Kopf und sagte: „Zu spät.“

Auf einmal war der Wald von rötlichem Licht erfüllt, ein Brausen, das schlagartig laut wurde. Gleichzeitig wurden die Flammen sichtbar, die von rechts auf sie zuschossen. Aber sie erreichten sie nicht. Bevor sie verschwanden, brannten sie noch schnell die benachbarten Bäume zu Asche. Lika und Adarwen, sich auf dem Drachen duckend, blinzelten erschrocken.

Jetzt schien sie die grelle Mittagssonne an und der Rauch zog sich durch die Luft. Als er sich ein bisschen lichtete, kamen die Waldbrandleger zum Vorschein.
Zwei riesige, schildkrötenähnliche Lebensformen, mit verrußten Panzern und der Größe von Einfamilienhäusern trampelten sich ihren Weg vorwärts. Die Asche, die meterhoch den Boden bedeckte, dämpfte ihre Schritte. In ihrer Mitte lief eine kleine, menschliche Gestalt, völlig in rot, gelb und orange gekleidet. Zusammen hätten sie auch als überdimensionales, leuchtendes Ausrufezeichen herumlaufen können.

„Da seid ihr ja...“ Langsam konnte es Adarwen nicht mehr haben. Diese Schattenfuchsjagd war der reinste Beschiss! Dann bemerkte sie das Zeichen der Echse und des Sichelmondes, das auf den Hornplatten der monströsen Kreaturen eingeritzt war. Was wollten die Bestienritter hier?

„Hey!“, rief Stepper und stellte sich zwischen Arco und die beiden feuerspuckenden Unwesen mit ihrem Führer.

„Wir waren zuerst da!“

Der kleine, rotgekleidete Bestienritter kicherte und machte Lockerungsübungen mit beiden Händen, während er näherkam. Seine linke Hand glich einer tierischen Klaue, behaart und mit langen Krallen. Er holte aus, zielte hinter den Drachen und schlug in die Luft. True Grey wurde von einer unsichtbaren Kraft getroffen, die seine Kleidung zerfetzte und ihn fünf Meter gegen den nächsten Baum schleuderte.
„Onyx!!“ Stepper rannte los, um nach seinem Freund zu sehen.
„Nicht so schnell!“, meldete sich der Bestienritter mit einem linkischen Grinsen und schlug diesmal nach ihm. Stepper wich aus, indem er einen Sprung ausführte, blitzschnell von seiner Stelle verschwand und am nächsten Punkt wieder auftauchte. Stattdessen wurde Lika getroffen und mit einem Schrei vom Drachen gerissen. Adarwen sah erstarrt zu, wie sie ohnmächtig zu Boden fiel. Arco wurde sauer. Den Feind ein letztes Mal warnend, stieß er einen volltönigen Brüller aus, der Vögel nah und fern aufscheuchte. Die Feuerbiester fixierten ihn mit ihren schwarzen Käferaugen. „Feuer!“,befahl der Bestienritter mit ausgestrecktem Arm und die rechte Echse öffnete ihr Maul. Adarwen wusste, was auf sie zukam, sie sah auf den lädierten eversun, aber sie hatte keine andere Wahl. Arco rührte sich tapfer nicht von der Stelle, als die Stichflamme auf sie zukam, die Hitze noch unerträglicher als das Licht. Adawen kniff die Augen zusammen und hoffte mit aller Kraft, bat irgendjemanden, dass der Reject funktionieren würde. Mit ausgestrecktem Arm zwang sie Eversun, die Fingergelenke noch ein einziges Mal zu bewegen. Die Feuermasse traf auf ihre Handfläche, sie wurde vom Sattel gehoben. Das war das Zeichen, dass es funktioniert hatte. Eversuns Einzelteile fielen um sie herum zu Boden. Das Feuer kehrte zu seinem Aussender zurück, aber es machte ihm nichts aus. Sie konnte den Bestienritter lachen hören, bevor er
„Noch mal!“ befahl. Sie stieß mit ihrer Hand an etwas Kaltes. Erschrocken fuhr sie herum und sah Lika neben sich liegen. Ihr war etwas aus der Tasche gefallen.

Die Feuerbestie holte Luft.

Es waren zwei aufeinander befestigte Metallscheiben, die untere größer als die obere. Die letztere diente als Anzeiger und ließ sich drehen. Adarwen laß auf dem äußeren Ring: „Katzensprung; Spiegel; Nichts; Weit weg.“ Sie hatte keine Ahnung, was dieses Ding bewirkte, aber im Moment wollte sie am liebsten weit, weit weg! Sie stellte die Scheibe darauf ein. Sofort wurden sie von einem Wirbelwind umgeben, der das Feuer mit sich riss und es bis hoch in den Himmel hob. Adarwen, Lika, Arco und das Edelsteinduo waren komplett eingeschlossen. Stepper blickte Adarwen entsetzt an, neben seinem Partner kniend und fragte sich, ob die da wusste, was sie tat.

Das Brausen verstummte und die Flammen lösten sich auf. Sie zischelten, als die unteren vom Schnee, der den Boden bedeckte, gelöscht wurden.


Getrennte Wege


„So langsam geht es mir auf die Nerven“, sagte Sadira und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Mir auch“, nickte Thalia. Sie standen wieder am Ufer des Sees, die Sonne war untergegangen und zu allen Seiten flohen die Zuschauer zu allerlei Fortbewegungsmitteln. Tausend Lichter glitzerten auf der Wasseroberfläche und die Szenerie wäre richtig romantisch gewesen, wenn nicht allgemeine Panik geherrscht hätte. Schon zum zweiten Mal endete für die beiden Ritterinnen eine Massenveranstaltung in einem Riesenfiasko. Sie standen mit den anderen da und starrten auf das Wasser, Karmesin nickte bedächtig vor sich hin. Überall öffneten sich jetzt Portale, durch die ASN – Schutzleute auf die Turniergründe strömten. Sie selbst waren durch so ein Portal entkommen.
„Überlassen wir das denen und hauen ab.“, meinte Nea. „Aber zuerst sollten wir diese zwei Personen mit Adarwen und Lika austauschen.“ Der Nekromantiker hob eine Augenbraue und Karmesin lächelte freundlich.
„Sie befinden sich mitten in der Schattenfuchsjagd, wir können keinen Kontakt mit ihnen aufnehmen, so sind die Regeln“, machte Thalia ihre Kollegen darauf aufmerksam.

„Scheiß auf die Regeln!“, regte sich Sadira auf, „Das hier ist ein Notfall! Hey! Wenn ihnen irgendwas passiert sein sollte, dann werde ich mich persönlich darum kümmern, dass es dir Leid tut!“ Der Nekromantiker schien nicht im Geringsten von ihrer Drohung beeindruckt. „Ich habe keine Ahnung, was gerade dort passiert. Mein Auftrag war es nur den Kristall zu stehlen und eine Panik auszulösen.“
„Ihr seid mir ja eine schöne Organisation! Du da!“ Sadira zeigte jetzt mit dem Finger auf Karmesin, die erwartungsvoll blinzelte.
„Sag mir, wie es ihnen geht. Das kannst du doch, oder, Frau Hellseherin?“
„Tut mir Leid. Wir werden uns wohl überraschen lasen müssen.“
„Ihr seid aber auch zu ÜBERHAUPT NICHTS NÜTZE!“, regte sich Sadira ein weiteres Mal auf. Stille.
„Dann werde ich eben hinfliegen“, seufzte sie schließlich.
„Nein, warte.“ Thalia hielt sie an der Schulter zurück. „Ich benutze die hier.“ Sie zog an einem Band um ihren Hals. Eine kleine silberne Drachenpfeife hing daran.

Dann hieß es warten. Es war schwer, am dunklen Himmel etwas zu erkennen, aber schließlich kündigte Arco sich mit einem Fiepen an. Er war in seiner geschrumpften Form und ziemlich verrußt. Nur allzu gern ließ er sich in Thalias Armen nieder. Das sah gar nicht gut aus...



„Was hast du angestellt, du Hexe?!“
„Ich bin keine Hexe!“, erwiderte Adarwen empört,
„Ich bin...“ Spionin, schreib’s dir doch gleich auf die Stirn. „...keine Hexe...“ Lapis und die Ritterin saßen sich in einigem Abstand im Schnee gegenüber, Adarwen hatte die ohnmächtige Lika im Arm, Lapis seinen verletzten Partner. Das Klima (Schneewüste) war im Vergleich zu ihren Blicken Nichts. Vor Adarwen im Schnee lag die Scheibe, die sie hier her befördert hatte. Sie dampfte noch leicht.
„Bring uns sofort wieder zurück!“, forderte Lapis, der sichtlich fror, er war nicht besonders warm angezogen. „Tut mir leid.“, tat es ihr zwar nicht, aber in Anbetracht der eversun – Trümmer um sie herum und ihrer ausgeknockten Freundin wollte sie nichts riskieren. „Das war ein Notfall...“ Hey, immerhin waren sie nicht gegrillt. Adarwen streckte sich nach der Scheibe und hob sie aus dem Schnee auf. Das Metall wärmte ihre Hände. Da gab es immer noch die Option „Nach Hause“

„Okay, ich versuch es.“ Sie holte tief Luft und legte die Hand an den inneren Ring an.Das Ding war eingerastet, es bewegte sich keinen Millimeter.
„Es... funktioniert nicht.“, rief sie zu Lapis alias Stepper herüber.
„Na toll.“
Gegen sein Erwarten stand auf einmal sein Kumpane, Onyx, auf. Er war zwar blutüberströmt, konnte aber noch gut gehen. Adarwen bekam schon leicht Panik, als er vor ihr stehen blieb und sich zu ihr runter beugte. Und was tat er? Er hob Lika auf.
„Wir sollten hier nicht bleiben.“ Seine Stimme strahlte vollkommene Ruhe aus.
„Ach, und wo sollen wir deiner Meinung nach hingehen, Onyx?“, fragte Lapis und kam an seine Seite.
„Dahin.“ Onyx zeigte in die Ferne. Durch das Schneetreiben undeutlich zu erkennen, ragte eine schwarze Festung aus den eisigen Dünen. Lapis zuckte mit den Schultern. „Wenn es da wärmer ist...“ Adarwen kam es so vor, als hätte sie die Situation irgendwie nicht mehr unter Kontrolle. „Moment mal, wartet gefälligst auf mich!“ Die konnten doch nicht einfach mit Lika abhauen! Schnell raffte sie die Überbleibsel von ihrer Waffe zusammen und stapfte hinterher.

Onyx diente sozusagen als Schneeschieber, er durfte vorangehen und als Einziger bis zu den Knien im Schnee stehen. Die Festung stellte sich als klein in der Grundfläche, aber sehr hoch heraus. Sie sahen keine Fenster und dementsprechend auch kein Licht.
„Wir wollen ja mal nicht so sein“, meinte Lapis und klopfte freundlicherweise an.

„48, 49, 50.“ Krach. Wie Adarwen irgendwie schon erwartet hatte, machte keiner auf und Lapis trat das Tor ein.
„Ach du Scheiße...“, sagte er in Anbetracht des verwahrlosten Innenhofes. Hier kehrte wohl keiner Schnee. Der mittlere Teil der Halle war nämlich nicht überdacht und es rieselte fröhlich auf die weiße Marmorstatue eines Reiters und auf alles weitere im Umkreis, das heißt auch auf die winzige Büsche, die sich am Rande der dachlosen Fläche an die Säule duckten. Kurz: Das warme Kaminfeuer konnten sie knicken.

„Ich bin doch kein D-Zug!“ Eilige Schritte kamen die Wendeltreppe auf der rechten Seite herunter (auf der linken führte eine nach unten). Hier wohnte also doch jemand! Schwarze Lackpumps, langer flauschiger roséfarbener Mantel, bonbonrosa Korkenzieherlocken. „DU?!“, riefen Lapis und Adarwen gleichzeitig.
„Überraschung!!“ Ein Wunder, dass diese Dame nicht eine Torte dabei hatte, aus der sie hätte springen können. Vielleicht sollte so langsam mal aufgeklärt werden, wer das hier war:

Calla.

„Du hast uns gelinkt!“

„Ich dachte, du wärst tot!“
„Ja, ich freue mich auch, euch wiederzusehen!“, erwiderte Calla Lapis‘ und Adarwens heftigen Kommentar.
„Aber vielleicht kommt ihr erstmal rein und wir warten, bis die da wieder aufgewacht ist, ich hab nämlich keine Lust, alles zweimal zu erklären.“ Sie stieg optimistisch wieder ein paar Stufen hinauf. „Na kommt schon, nicht so schüchtern!“, forderte sie sie auf, als keine Reaktion folgte. Lapis und Adarwen tauschten misstrauische Blicke.

„Ich hab auch Kuchen!“ Onyx setzte sich in Bewegung.

„Onyx!“, rief Lapis entsetzt.

„Dir ist doch kalt, oder nicht?“, war nur dessen kryptische Antwort.



„Wir gehen nicht, bevor wir nicht wissen, was mit unseren Freundinnen passiert ist!“

Sadira ließ sich nicht abwimmeln. Obwohl um sie herum das totale Chaos herrschte, gab es noch irgendeinen Deppen, der nichts besseres zu tun hatte, als sie von den Gründen der Schattenfuchsjagd fernzuhalten. Der uniformierte ASN-Beamte hatte seit seinem
„Bitte halten sie sich vom Turnierplatz fern!“ nichts mehr von sich gegeben und und stand mit ausgebreiteten Armen vor ihnen. Sadira sah noch nicht mal seinen Gesichtsausdruck, weil er seine Schirmmütze so tief ins Gesicht gezogen hatte.
„Sehen sie mal, wir sind die Ritterinnen. Wir kennen ihren Chef.“ Sie war zwar im Moment die einzige Ritterin hier, aber Karmesin konnte notfalls auch noch so durchgehen. Der Nekromantiker weniger.

Der Mann war in seinem früheren Leben wohl Wache des Buckingham Palace gewesen, er zuckte noch nicht einmal mit dem kleinen Finger.
„Sie kriegen Ärger, wenn sie uns nicht durchlassen.“
„Negativ.“ Aha, eine Reaktion!
„Sie könnten sogar gefeuert werden.“
„Negativ. Ich befolge nur die Anweisungen.“
„Und die wären?“
„Niemanden durchlassen.“
„Dann kriegen sie Ärger.“
„Verstehe nicht.“
„Ich glaube nämlich nicht, dass ihr Boss was von „Sich von Leuten bequatschen lassen, damit sich der Rest hinter ihrem Rücken reinschleichen kann“ gesagt hat. Der Mann sah sich um. „Ach, lassen sie's. Einen schönen Tag noch.“ Ablenkungsmanöver erfolgreich.


„Wenn du was siehst, schrei' einfach.“
„Ich seh' Bäume“, antwortete Nea Thalia schlicht. Arco kreiste über dem Abschnitt des Waldes, der noch existierte und nicht abgefackelt war. Keine Menschenseele, von riesigen Schildkrötenmonstern ganz zu schweigen. Aber davon wussten die beiden ja noch gar nichts, sie sahen nur die Hinterlassenschaft: jede Menge verbrannte Erde. Nach einer Stunde gaben sie auf und flogen, wie vereinbart, zur Burg (immer noch nicht angemeldet) zurück. Sadira war schon früher angekommen...


Sie hatte sie und ihre beiden Anhängsel genau auf den Vorplatz teleportiert. Jetzt standen sie zwischen Ruinen.
„Ja, sehr hübsch.“, meinte Karmesin.
„Okay, ich weiß, dass das hier eine Täuschung ist.“ Der Nekromantiker sah sich langsam um. „Wo ist euer Versteck?“
„Erstens ist es kein „Versteck“, sondern eine Burg und zweitens werdet ihr draußen warten.“, fertigte Sadira sie ab.
„Och komm schon, Sadira. Ich weiß wie man reinkommt, ich kannte den Vorbesitzer“, versuchte Karmesin Sadira zu überzeugen.
„Naaatürlich“, seufzte Sadira, „Wenn das stimmt, kannst du mir ja einfach nachlaufen, dann wird dich die Burg ja reinlassen.“
„Danke für die Erlaubnis.“ Mehr wollte Karmesin gar nicht.

„Aber ihn können wir nicht einfach alleine draußen stehen lassen. Es gibt Regen“, setzte Karmesin sich jetzt für den Zweimeterstoffel neben ihr ein.
„Hast du das etwa auch vorausgesehen? Mit deiner Kristall – ku – gel?“
„So ähnlich. Ich habe den Wetterbericht gelesen. Außerdem sind wir her teleportiert. Das heißt, er hat keine Ahnung, wo wir wirklich sind.“

Sadira war müde, ihr war kalt und sie hatte Hunger.
„Na schön. Halt dich an mir fest.“ Der Nekromantiker schnappte sich einen Zipfel ihres Ärmels und sie pilgerten rein.


„Griischmo! GRISCHMO!!! Wo steckt der Kater?!“ Während Sadira energisch rumschrie und dann Richtung kleines Türchen lief, betrachtete Karmesin fasziniert die Decke der Eingangshalle (sie war tatsächlich ohne fremde Hilfe reingekommen), der Schwarzmagier schlich um den Gargoylebrunnen herum. Genau, als die Ritterin die Tür aufriss, hatte sie Grischmo vor der Nase. Er hielt Eimer und Wischmop in Händen. „Dritter, zweiter und erster Stock sind wieder glänzend sauber“, strahlte er sie an. „Ist ja schön Grischmo, aber wir haben keine Zeit.“ Sie drehte sich zu Karmesin und dem Nekromantiker um, die immer noch die Halle betrachteten. „Na gut, eigentlich haben wir Zeit. Welcher Salon ist der nächste?“
„Der olivfarbene.“
„Uhrgs... Na schön. Bewegt euch hier her, aber ein bisschen schnell!“, war Sadiras freundliche Aufforderung ihr zu folgen.


Zwei Stunden später waren sie dann komplett. Zu sechst saßen sie um die Runde Tafel des olivfarbenen Salons. Thalia ergriff das Wort. „Okay, zuerst einmal: Grischmo, das sind Karmesin – eine Wahrsagerin – und... ein übel gelaunter Typ, der mit Nekromantie hantiert und der eigentlich überhaupt keinen Grund hat hier zu sein. Ich kenne noch nicht einmal seinen Namen.“ Der Mann erhob sich von seinem Stuhl, so dass alle zu ihm heraufsehen mussten.

„Eyffl Moorstab. 32 Jahre alt. Geboren am 18.10., Sternzeichen Waage. Meine Lieblingsspeise ist –“
„Ist ja schon gut!“, murkste Sadira ihn ab. Eyffl setzte sich wieder und verschränkte die Arme.
„Ihr wollt Informationen? Bitteschön. Andere habe ich nicht. Warum ich noch hier bin? Keine Ahnung.“ Er könnte unseren Geist austreiben...“, meldete sich Grischmo kleinlaut.

„Ich rufe Tote. Ich schicke sie nicht weg. Außer, ich habe sie auch selbst gerufen. Bin doch kein Exorzist.“
„Außerdem könntet ihr den Geist noch mal brauchen, vielleicht.“ Karmesin schob noch ein „Eventuell...“ hinterher, denn die Ritterinnen starrten sie genervt – zornig an. Warum mussten Wahrsagerinnen immer zu den unnötigsten Zeitpunkten völlig schwammige Vorhersagungen machen?

„Er schuldet uns noch etwas.“, fiel Nea ein. Der Nekromantiker wandte ihr seinen eiskalten Blick zu.
„Was soll ich dir schulden?“, fragte er mit fast unhörbarer Stimme.
„Du hast uns Aicyn weggenommen. Und wem hast du es zu verdanken, dass du noch am Leben bist? Findest du nicht, da ist eine Gegenleistung angebracht?“ Die anderen verstanden nur Bahnhof.
„Was hat er mit Aicyn zu tun?!“, wollte Sadira wissen. Langsam öffnete Eyffl eine Seite seines Umhangs, an dessen Innenseite lauter Totenschädel hingen. „Ich trage ihn zufällig mit mir herum.“ Mit diesen Worten stellte er Aicyns Schädel auf den Tisch.


„Ich bin durchaus gewillt, ihn euch wiederzugeben, aber dafür muss ich allein sein. Wenn ihr also bitte alle den Raum verlassen könntet?“, erklärte er ohne Umschweif und wirkte dabei so glaubwürdig wie ein Maskierter in einer Bank.

Nach einem langen ausgetauschten Blick meinte Sadira: „Na schön, aber wir warten direkt vor der Tür!“

Dort blieben sie, bis sie einen Schrei aus dem Zimmer hörten und die Tür aufrissen. Aicyn lag halb, stand halb auf dem Tisch, um ihn herum ein wenig Ruß (anscheinend war die Wiederbelebung eines Zentaurs ein exothermer Vorgang) und ein Fenster stand offen.

„Da ist gerade ein Mann aus dem Fenster gesprungen!“, stotterte der Zentaur aufgelöst.
„Er hatte so einen schwarzen Umhang an und ... ich hab ihn nur von hinten gesehen. Oh, mein Gott, welcher Stock ist das hier, das wird doch wohl nicht...“
„Aicyn, komm wieder runter!!“, seufzte Sadira. Er sah eine nach der anderen an, um sich zu ordnen. „Moment mal... schwarzer Umhang?! Jetzt erinnere ich mich wieder! Das war Eyffl Moorstab, ein Glück, dass der weg ist. Ich freue mich ja sooo euch wieder zu sehen!“ Er schaffte es irgendwie vom Tisch und wankte dann auf Nea zu, um sich in ihre Arme zu retten. Thalia zog ihm schnell eins über.
„Du hast uns Einiges zu erklären.“, stellte sie gleich klar, dass sie seine romantisch verklärten Gefühle nicht so ganz teilten.
„Okay, ich bin untot, aber das tut keinen Abbruch! Nach dem Tod ist das Nichtleben noch einmal so schön! Mann, bin ich froh, wieder aus Eyffls Sammelsurium von Seelen raus zu sein. Der Kerl trägt ein paar skurrile Gestalten mit sich herum...“ Aicyn schüttelte heftig den Kopf um die unschönen Erinnerungen loszuwerden. Aber irgendwie sahen Nea, Thalia und Sadira immer noch unzufrieden aus. Dann entdeckte der Zentaur Karmesin...

„Wer ist eigentlich diese bezaubernde Schönheit?“
„Das ist Grischmo, den kennst du doch schon“, machte Thalia sein Ablenkungsversuch zunichte.
„Du wolltest den Tauchsieder gar nicht hier herbringen!“, wurde Nea direkt, „Du wolltest ihn stehlen. Er war schon hier.“
„Das... das ist doch Unsinn“, fing Aicyn an zu stottern. „Warum sollte ich denn...“
„Der Schutz der Burg ist für Lebendes gedacht. Du hast völlig überrascht getan, als wir die Ruinen zeigten, dabei war die magische Täuschung schon vorher da. Karmesin ist Zeugin, sie kannte den Burgbesitzer.“

„Ach, Karmesin heißt die Schönheit...“ Aicyn nickte ihr anerkennend zu, doch Thalia ließ sich nicht beirren.
„Die Bestienritter haben dich geschickt, weil du als Einziger durch die Barriere kamst. Die Sicherheitslücke sollte ich übrigens stopfen“, fügte sie nach kurzer Überlegung hinzu.

Aicyn kniff die Augen zusammen und hielt sich die Ohren zu.
„Ich weiß von nichts! Ich kann doch nicht dafür, ich... ich bin doch nur ein kleiner Zentaur!“ Mit einem ganz schön überzeugendem Hundeblick noch dazu. Nea seufzte. „Hättest du uns gleich die Wahrheit gesagt, wärst du nicht wieder bei dem Nekromantiker gelandet.“ Aicyn wollte gar nicht daran denken, was gewesen wäre wenn, ihn beschäftigte eine andere elementare Sache:
„Wo ist Lika-Hase überhaupt? Und Darwinelchen?“
„Verschollen.“, sagte Sadira kalt.
„Auch deine Schuld.“, setzte Thalia noch drauf. Aicyn hätte fast einen Herzinfarkt bekommen. Wahrscheinlich konnte er aber einfach nur gut schauspielern.

Karmesin raffte sich auf und ging zum Fenster. Sie lehnte sich weit hinaus und spähte in die Nacht. „Von Herrn Moorstab ist nichts mehr zu sehen. Jetzt wird er wohl doch herausfinden, wo die Burg ist.“ Zutiefst bedauernd den Kopf schüttelnd schloss sie das Fenster wieder. Klonk! ... oder so ähnlich machte es, als eine grüne Taube gegen die Scheibe flog. Thalia versorgte sie schnell mit einem Animierungszauber und nahm ihr den Brief vom Bein.
„Er ist vom ASN. Warum können die nicht einfach ihre Briefe färben?“


Sehr geehrte Ritterinnen,

bitte melden sie sich, sofern es die Umstände erlauben, dringendst bei mir. Der Chef.


, lautete die knappe Nachricht. Anscheinend war es wirklich „dringendst“, er erwähnte nämlich nicht, dass sie ihr Haus anmelden sollten.

Dann würde ich sagen, wir essen noch alle was zu Abend und gehen schlafen, damit wir gleich morgen frühzeitig losgehen können.“, sagte... Karmesin. Stille.
„Was denn... ist was?“
„Sag mal, hast du kein Zuhause?“, war Thalias etwas ruppige Antwort. Sie waren nicht die Wohlfahrt.
„Doch, aber da stehen andauernd Leute vor der Haustür und wollen, dass ich ihnen eine Wahrsagung mache...“
„Och, Leute, ich hab Hunger. Können wir sie nicht einfach morgen beim ASN absetzen?“, ging Sadira dazwischen. Und so wurde schließlich doch das gemacht, was Karmesin gesagt hatte. Die Frau ist unheimlich...


Lika war es mollig warm als sie aufwachte. Und dann, als sie sich im Bett aufsetze, sah sie Onyx mitten im Zimmer stehen und stieß einen Schrei aus. Der Mann wich erschrocken zur Zimmertür zurück. Wo war sie eigentlich? Das Zimmer war spartanisch eingerichtet, ein Bett, ein Tisch, ein kleiner Teppich. Blanke Steinwände erinnerten sie ein bisschen an ihre Burg. Naja, sie war nicht tot. Sie lag sogar in einem warmen Bett, auch wenn sie nicht den blassesten Schimmer hatte, wie sie hier hergekommen war. Auf dem Tisch lag ihr Anhänger vom rostigen Besteckkasten und eine kleine Scheibe aus Metall: der Dimensionsmodulator. Adarwen würde doch wohl hoffentlich keinen Mist damit gebaut haben... Wahrscheinlich war alles halb so schlimm...

„Entschuldigung für meine spontane Reaktion eben.“ Der Mann an der Tür nickte. „Wo ist Adarwen... meine Freundin?“
„Sie hat wahrscheinlich schon angefangen.“

„Mit was?“

„Mit Kaffee und Kuchen.“


Sie zog ihren Umhang fester um sich, als sie die Wendeltreppe des Turms hinunterstiegen. In Treppenhäusern von Burgen war es zwar immer zugig, aber zusätzlich wurden kalte Luft und Schneeflocken durch die Fensternischen hineingewirbelt. Ja, Adarwen hatte den Dimensionsmodulator eingesetzt. Jetzt waren sie IRGENDWO und sie konnte auch nichts mehr daran ändern.

„Noch Kaffee?“

An der Nachmittagstafel herrschte etwas frostiges Klima, was nicht am Wetter draußen lag (immerhin brutzelte im Kamin ein schönes großes Feuer), sondern eher an den Gästen. Calla versuchte wirklich alles, um ein bisschen Wärme zu verbreiten, aber irgendwie kam nichts bei Adarwen und Lapis auf der anderen Seite der Tafel an. Der gemeinsame Feind hatte sie zu Verbündeten gemacht, jedenfalls wussten sie, was sie voneinander halten sollten, was man von Calla nicht sagen konnte. Sie hatte das Dinierzimmer in einer Mischung aus Gothic und Babyzimmer eingerichtet, es gab schwarze Spitze und rosafarbene Kaffeekannen. Eine Torte war mit kleinen Totenköpfen aus Marzipan bestückt. Die beiden etwas unfreiwilligen Gäste hatten noch nichts angerührt.

Lika betrat, dich gefolgt von Onyx, das Zimmer. Sie war leicht überrascht, aber nicht wirklich übermäßig, als Dimensionsreisende gewöhnte man sich mit der Zeit an seltsame Kombinationen von Ort, Zeit und Personen.

„Etwas Torte, Lika?“ Oh, gerne...“
Die Frau sah zwar aus wie Calla, aber wenn sie einem freundlich etwas zu essen anbot, sollte man (wenn man einen Tag lang nichts gegessen hatte) nicht Nein sagen.
„Was machst du denn?!“, zischelte ihr Adarwen von der Seite zu.
„Ich esse Kuchen. Hab ich dir nicht gesagt, dass man nicht mit magischen Artefakten rumspielen darf?“ Adarwen blinzelte, perplex über die offene und laut ausgesprochene Antwort.
„Ehm... Nein!“
„Dann sag ich es dir jetzt. Danke!“ Sie nahm von Calla den Teller mit der Totenkopftorte entgegen.
„Kaffee dazu?“
„Lieber Cappuccino. Hast du welchen da?“
„Moment, ich geh schnell welchen machen.“ Und Calla tänzelte Richtung Küche.

„Bist du völlig übergeschnappt?! Du kannst doch nicht dieses Zeug essen. Wer weiß, was für Gift die da rein gemischt hat!“, knüpfte Adarwen an vorhin an und Lapis beugte sich herüber, um auch noch etwas mitzubekommen. Onyx im Hintergrund naschte etwas Sahne aus einer Schüssel (man hatte ihm noch nichts angeboten).

„Darwinelchen, hast du eine Ahnung, wo wir gerade sind?“, fragte Lika und stach mit der Gabel in die Torte. Adarwen zuckte bei „Darwinelchen“ merklich zusammen und antwortete zähneknirschend: „Nein?“
Sie beobachtete Lika, wie sie den ersten Bissen aß, sie zeigte keine Anzeichen einer Vergiftung, im Gegenteil, es schien ihr sichtlich zu schmecken.
„Ich hatte gehofft, du könntest es mir sagen. Immerhin ist das dein Scheibendings, mit dem ich uns gerettet habe.“
„Ja, ja, Dankeschön. Du solltest die Torte probieren,sie ist wirklich –“ Adarwen grummelte laut und ließ Lika kurz verstummen. „Okay. Der Dimensionsmodulator kann uns an verschiedene Orte bringen. In Namins Welt, die jenseits aller anderen Welten liegt, in eine Dimension, die schon „abgehakt“ ist, unter anderem... und – wo wir gelandet sind – in eine „frische“ Dimension.“ Adarwen ahnte Schreckliches.
„Könntest du das noch etwas ausführen, Likalein?“, bat sie düster. Lapis hörte merklich interessiert zu. Onyx betrachtete die Tischdecke.

„In jeder Dimension, in die man das erste Mal reist, muss man erst seinen Platz finden. Meistens muss man dazu irgendeine Aufgabe erfüllen. Die Dimension wird nach dem Zufallsprinzip aus dem großen Teich der Dimensionen gezogen. Und wir sind zufällig –“
„Bei mir gelandet. Hier, dein Cappuccino, Lika.“ Calla stellte die Tasse vor ihr ab.
„Ihr habt sicher trotzdem jede Menge Fragen, die euch Lika nicht beantworten kann. Ich würde euch dazu gerne etwas nach dem Kaffee zeigen.“, erklärte Calla in freundlichster Stewardessenmanier. Adarwen fand das langsam ein bisschen geduld- und nervenzehrend. Erst wollte sie es ihnen erklären, wenn Lika wach war. Jetzt wollte sie ihnen etwas zeigen. Ja, was denn nun?
„Okay, wir SIND mit dem Kaffee fertig!“, meldete sich Lapis, der ebenfalls so genervt wie die Ritterin war.
„Aber Nein! Dein Freund hat noch gar nichts gegessen!“, entgegnete Calla und wuselte zu Onyx hinüber, damit der endlich auch zu seinem Kuchen kam.



„Vorsicht, die Stufen sind ein bisschen glatt.“ Calla führte sie diesmal die Wendeltreppe hinab, die in den Keller führte. Selbst auf dem Geländer häufte sich der Schnee, aber nur bis zu dem Punkt, an dem die schief einfallenden Flocken noch die unterirdische Treppe erreichten. Im Keller war es, mangels Strom, stockdunkel.
„Oh, jetzt hab ich den Leuchter vergessen, einen Moment.“ Calla wollte die Wendeltreppe schnurstracks wieder hoch, aber Lapis versperrte ihr den Weg.
„Diesmal drückst du dich nicht. Wir finden den Weg auch so.“
„Hast du eine Ahnung! Das ist das reinste Labyrinth, hier unten. Mir nach!“ Und sie folgten dem nachhallenden Klang ihrer Stöckelschuhe, die eilig über den Steinboden staksten. Wie von Lapis geahnt, kannte sie den Weg sehr wohl und führte sie direkt in einen langen dunklen Gang, der so eng war, dass sie alle hintereinander laufen mussten.
„Na, fällt euch auch was auf?“, durchbrach Calla das Schweigen.
„Du führst uns in eine Falle?“, riet Lapis.
„Nein, aber ich mag misstrauische Männer.“ Wollte das jemand wissen, Calla?
„Es ist wärmer geworden.“, sagte Lika, die leicht fröstelte und so wieso gerade was zu Adarwen darüber sagen wollte.
„Wir kommen jetzt zur effektivsten Fußbodenheizung, die es je gab!“, kündigte Calla groß an, bevor sie in einen großen Raum kamen, der zwar dunkel und leer, aber auch angenehm warm war. Sie klatschte zweimal in die Hände und die Kristalle an den Wänden und der Decke begannen zu glimmen, bis die Halle in ein angenehmes Licht getaucht war.
„Das ist unser Ballsaal. Im Moment leer.“, erklärte Calla und stakste quer über den Fußboden, in die gegenüberliegende Ecke des Raumes. Adarwen war nicht so klar, wer „unser“ war, aber sie folgte ihr gespannt.
„Der richtige Eingang ist im Moment zu, also müsst ihr entschuldigen, wenn wir hier durchgehen.“ Ja, Calla, WAS AUCH IMMER!

Sie hob eine Eckbodenplatte an und darunter befand sich eine Luke. Eine Metallstiege führte noch eine Etage tiefer. Ihre Gesichter wurden richtig angewärmt, als sie in die Öffnung sahen, durch die man rötlich schimmernd den Fußboden weiter unten sehen konnte.
„Es ist eigentlich das gleiche Prinzip wie bei den Grundwassersehen unter großen Wüsten. Immer mir nach.“ Und sie stieg mit ihren Lackpumps voran und hinab.

Ein Lavasee! Das zerflossene Gestein brodelte und blubberte, das Glühen schmerzte schon fast in den Augen.
„E voilá, da wären wir. Das Heiligtum von Atis‘ Feste.“ Sie standen jetzt umgekehrt wieder am Anfang einer großen Halle, am „Ufer“ des Lavasees. Ein schmaler Steg machte es möglich, dass man die Lava in der Mitte durchqueren konnte und ans andere Ufer gelangte. „Und da vorne werde ich eure Fragen beantworten.“ Aber Lapis ging keinen Schritt weiter. „Das stinkt dermaßen nach einer Falle!“

„Du musst nicht mitkommen. Eigentlich geht es hier um Ritterinnenangelegenheiten, ich gebe euch zwei nur die exklusive Chance mitzuhören. Können wir dann, Ladies?“

Eigentlich war Adarwen ja Lapis‘ Meinung, aber das, was jetzt geschah, ließ ihr gar keine andere Wahl, als dorthin zu gehen. Die kläglichen Überreste von eversun regten sich in ihrer Gürteltasche. Sie befreiten sich und flogen, angezogen von einer unbekannten Kraft zum jenseitigen Ufer des Lavabeckens.

Sie folgten Calla mit langsamen Schritten, Lika und Adarwen und als sie sich umdrehten, sahen sie, wie sich Lapis und Onyx doch noch in Bewegung setzten, angetrieben von Neugier. Die Luft um sie herum flimmerte von der Hitze der Lava. Der schmale Pfad unter ihren Füßen war an den Rändern geschmolzen und viel zu lang. Sie fühlten sich wie in der Sauna! Calla zog ihren flauschigen Mantel auf halber Strecke aus, so dass sie jetzt den Totenkopf, der ihnen die Zunge herausstreckte, auf ihrem knappen Top sehen konnten. So langsam konnten sie sehen, was sich auf der anderen Seite des Raumes befand, sogar bis zur Wand. Sechs steinerne Rahmen hingen da, mit farbigen Edelsteinen bestückt. Unter jedem stand irgendetwas. Vor jedem der Rahmen ging eine Energiesäule von der Decke bis zum Boden, in der vor dem vierten Rahmen zirkulierten die Einzelteile von Adarwens eversun. Ganz rechts drehte sich die dragon ax und im dazugehörigen Rahmen war ein Fresko von Calla Darunter stand in Stein gemeiselt:


Es war einmal eine Ritterin,

die war die listigste Strategin.

Ihr Lachen ließ alle Feinde erzittern,

ihr Blick zerbrach Stein.

Keiner brach ihren Willen.

Ihr Name war Calla.


Alle anderen Namen waren leer. Unter jedem stand ein Kästchen für die Beschreibung einer Ritterin, aber alle waren blank. Sie verharrten in Schweigen.

Nur Calla fing zu lachen an.

„Man kann eure Köpfe rauchen sehen!“

„Was soll das hier jetzt?!“, fragte Lapis, der sich ärgerte, aber doch viel mehr ungeduldig war.

„Tja, das wüsstest du gern, wa?
Ich werde es euch sagen. Das hier ist das ursprüngliche Zuhause der Ritterinnen. Von hier sind alle Waffen, die ich euch gegeben habe.“

Adarwen schüttelte unzufrieden den Kopf.

„Aber WO sind wir hier?!“

„Wir sind in Atis‘ Feste.“

Die beiden Ritterinnen starrten sie ungläubig an.

„Ja, der Atis von dem Reitervolk, das euch besucht hat. Er ist mein Onkel.“

„Aber...“, begann Lika.

„Und weiter?“, wollte Lapis genervt wissen.

„Wie wäre es, wenn ihr mich zu Ende erzählen lasst?!“, keifte Calla sie an. Wie auf Befehl setzte sich Onyx auf den Boden.
„Also schön. Die Ritterinnen waren früher, ganz schön früher, Kriegerinnen dieses Landes. Ich weiß auch recht wenig darüber, dieser Raum ist das einzige, was noch übrig ist. Und so’n Buch, aber das kann ich nicht lesen.“, merkte sie nebenbei an.
„Und irgendwann wurden sie nicht mehr gebraucht und die Sache geriet in Vergessenheit und bla... Ihr wisst schon. Bis ich das ganze wieder ausgegraben hab. Mir war langweilig, okay? Nicht so, dass ich die Welt verbessern wollte oder so. Am Anfang war das keine große Sache, mein Onkel war nur genervt, dass ich ganz alleine in dieser ollen verlassenen Burg rumwühle. Sein Großvater hat sie nämlich verlassen und ist an 'ne wärmere Stelle gezogen. Und dann hab ich das hier unten entdeckt. So weit erstmal.“

„Das war aber nicht besonders viel.“, bemerkte Lapis unzufrieden.

„Warum erzählst du nicht weiter?“, fragte Lika. „Weil sich sehr viel davon erübrigt, wenn ihr erstmal eure Prüfung hinter euch habt.“

„Ich wusste, das war 'ne Falle!“, stöhnte Lapis.

„Jetzt halt endlich deine Klappe dahinten! Ihr zwei seid Null davon betroffen!“, Calla fuhr herum und funkelte ihn wütend an. Lapis wich augenblicklich zurück, bis er gegen Onyx stieß, der wieder aufgestanden war. Er legte ihm die Hände auf die Schultern. Lapis blinzelte perplex, als wäre er aus einem Traum aufgewacht.
„Ihr befindet euch auf Ritterinnenterrain, also haltet euch zurück. Ich bin nämlich die einzige Ritterin im Moment.

Ja, ihr habt richtig gehört.“, wandte sie sich jetzt wieder an Lika und Adarwen, „Ihr habt euch nämlich noch nicht der Ritterinnenprüfung unterzogen. Deshalb auch die leeren Rahmen und die fehlenden Namen. Wenn ihr davor tretet und die Stelle berührt, wo eigentlich das Bild hingehört, gelangt ihr zu eurer Prüfung.“


WWAD (What would André do?)


Sadira wachte am nächsten Morgen später auf als sonst. Die vorgezogenen Vorhänge hatten sie über die tatsächliche Uhrzeit hinweggetäuscht. Dann würde sie sich mal an ihre allmorgendliche Pflicht machen und die anderen wecken...

Beim Anziehen allerdings wurde ihr klar, dass eigentlich nur Thalia zum Wecken da war, denn Nea hielt sich vorsorglich an einem Sadira-sicheren, aber geheimen Ort auf. Demotiviert verließ sie also das Zimmer, ohne Pfanne und Nudelholz eines Blickes zu würdigen und schlurfte relativ leise und unwecksam Richtung Küche. Sie hatte keine Lust, zum ASN zu gehen. Sie hatte keine Lust, sich eine Standpauke von diesem Chef-Chef anzuhören. Und sie hatte überhaupt keine Lust... Sadira hörte dumpfe Hufschläge.

„Morgen, Sadira-prinzesschen!“ Und Aicyn war auch schon vorübergerauscht, verfolgt von einem Feuerball und Thalia (in dieser Reihenfolge...).
„Bleib stehen, du! Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht vor der Badezimmertür spannen sollst?!“

„Morgen, Thalia.“

Thalia kam neben Sadira zum Stehen und gab so ihren Verfolgungsversuch auf.

„Morgen. Schon die anderen zwei gesehen?“

„Wenn du von Nea und unserem Gast sprichst, Nein.“

„Wir sollten uns so bald wie möglich auf den Weg machen. Ich hab zwar Grischmo auf die Suche geschickt, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er Nea finden wird.“

Thalias Sorge löste sich in Nichts auf, als die Dieben von außen an die Fensterscheibe klopfte. „Na endlich seid ihr wach!“, war ihr Gute-Morgen Gruß, „Ich war in der Bibliothek und habe nach einem Buch über Lebensfrost gesucht.“ Und Nea sprang über den Fensterrahmen auf den Korridorboden.
„Erfolgreich?“
„Naa, der dämliche Spiegel hat mich nicht an die oberen Regale gelassen, weil er der Meinung war, dass ich die Bücher klauen wollte. Ich will gar nicht wissen, was Lika dem über mich erzählt hat...“

„Und du weißt wirklich nicht, wo der Kristall jetzt ist?“ Nea schüttelte den Kopf.
„André hat ihn mitgenommen. Ich dachte, er bringt ihn seinem Chef.“ Sadira verschränkte die Arme vor der Brust.
„Und das war WIRKLICH nachdem er das Lanzenreiten gewonnen hatte?“
„Zum dritten Mal: Ja!“
„Das bringt alles Nichts. Wir müssen doch mit dem Chef reden.“, sagte Thalia und schob die beiden mit zur Küche.

Auf dem Weg dahin begegneten sie schließlich auch Karmesin. Sie stand mitten auf dem Gang und unterhielt sich mit dem gut einen Meter über dem Fußboden schwebenden Geist des früheren Burgbesitzers. Das seltsame war: Er keifte sie nicht an und er warf auch keine Sachen nach ihr. Anscheinend hatten sich die beiden wirklich früher gekannt. Beim Anblick der herankommenden Ritterinnen verabschiedeten sich die beiden und der ruhelose Geist schwebte durch die nächste Wand davon.

„So, jetzt könnt ihr wieder vernünftig mit ihm sprechen. Ihr solltet euch nur von seinem Marmeladenvorratskeller fernhalten.“

„Ich bin aber dagegen, Lebensmittel verkommen zu lassen!“, sträubte sich Sadira gegen die neue Abmachung.
„Gibt’s jetzt Frühstück?“, fragte Karmesin ganz ungeniert und ließ das Thema fallen.
„Und wo habt ihr Herrn Grischmo gelassen, kommt der nicht mit zum ASN?“
„Grisch macht meistens die Nacht durch. Wahrscheinlich hat er sich gerade schlafen gelegt. Katzen sind eben... Nachtmenschen.“

Also nahmen sie ein bescheidenes Frühstück zu sich (Sadira wurde regelrecht verboten Pfannkuchen zu backen) und machten sich ohne ihrem Hauskater Bescheid zu geben auf den Weg.

Mit viel von Sadiras Vitamin B standen sie sehr bald in jener schmalen Seitengasse, in der sie zum ersten Mal André begegnet waren. Sie war noch immer stinkig und vollgestellt mit Gerümpel und Müll. Eine Katze wühlte in einer umgefallenen Tonne. Karmesin musste ihren Phönix beruhigen, der empört mit den Flügeln schlug.

„Da wir ja erwartet werden, würde ich sagen... warten wir einfach“, meinte Thalia. Nach fast einer viertel Stunde warteten sie immer noch.
„Wenn hier eine Tür wäre, würde ich sie jetzt mit Sicherheit eintreten...“, seufzte Sadira, die sich auf einem Karton niedergelassen hatte.
„Mir würde eine Klingel schon reichen.“, sagte Nea.
„Es tut mir Leid, dass ich nicht behilflich sein kann, aber bis jetzt hat sich Geduld im größten Teil der Fälle ausgezahlt.“ Ja, Karmesin, das war wirklich in keinster Weise behilflich.
„Ich wette, wenn wir jetzt irgendeine Kleinigkeit anstellen – meinetwegen mit der Kutsche falsch parken -, dass dann sofort einer dieser ollen Melonenträger –“
„Ehem!“
Thalia drehte sich in ihrer Rede unterbrochen um. Da stand ein Mann in Sakko, wie damals, seine langen, dunkelbraunen, gewellten Haare verliehen ihm einen femininen Touch und in der Hand hielt er eine Kaffeetasse.
„Können wir dann? Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“

Sprach’s und machte kehrt.
„Wer... war das?“, flüsterte Thalia den anderen zu.
„Wer auch immer das war... der Weg ist jetzt frei“, sagte Nea und zeigte auf das Portal, das der Mysteriöse offen gelassen hatte.
„Vielleicht war André in Wirklichkeit ein Roboter und das hier ist Version 2“, spann Sadira zusammen und erntete Blicke, die das genau so ausdrückten.
„Egal...“, seufzte Thalia und betrat den Zugang zum ASN. Hat sich irgendjemand den Weg zum Chef gemerkt?“

„Wenn wir uns beeilen, erwischen wir vielleicht unseren charmanten Guide noch!“, antwortete Karmesin und zog an Thalia vorbei ins Innere des Verwaltungsgebäudes. Tatsächlich nahmen sie wieder die Spur des Herrn mit den langen Haaren auf und schafften es sogar mit etwas Rennen in den gleichen Aufzug.
„Da seid ihr ja wieder“, war sein passender Kommentar.
„Und wer sind SIE?“, wurde Sadira direkt.
„Ich?“, fragte der Mann unnötigerweise noch einmal und legte sich zum Deuten eine Hand auf die Brust.
„Ich bin eine ganz bescheidene Existenz. Mein Name ist Martini. Hocherfreut.“ Und er schüttelte jeder die Hand.
„Sagt mal, wart ihr nicht mal mehr?“, fragte er wild mit dem Zeigefinger in der Luft herum gestikulierend.

„Ehm ja... aber sie haben unsere Frage noch nicht wirklich beantwortet“, sagte Thalia leicht irritiert. Martini süffelte am Kaffee und sah sie fragend an.
„Wenn sie uns abholen“, deutete Nea die Aktion von eben, „heißt das dann-“
„Ja, ich bin die Vertretung von Mei- von André Hibis.“
„Heißt das, dass ihr auch nicht wisst, wo er gerade ist?“, fragte Sadira.
„Tja, das weiß wohl keiner wirklich.“ Sich abwendend verließ Martini den Fahrstuhl wieder. Für den Rest der Strecke war er schweigsam. Erst, als sie vor der Tür zum Chef standen, wandte er sich mit einer Warnung noch einmal an sie.

„Nicht erschrecken – Tür ist schalldicht.“


„Was soll das heißen – KEINE GESICHTER?! Ich will wissen, wer unser Turnier verwüstet hat! Und Lebensfrost, haben sie den wenigstens gefunden?“

Als Martini die Tür öffnete, erlebten sie einen ziemlich aufgebrachten Chef beim Telefonieren. Sein Kopf war hochrot und er zerquetschte beinahe den Telefonhörer in seiner Hand.
„Melden sie sich ja nicht ohne einen Erfolg!“ Und er schmetterte den Hörer auf die Gabel. Sein Blick schweifte über die Ritterinnen und Karmesin, die bedröppelt in der Zimmerecke standen, zu Martini, der gerade wieder die Kaffeetasse zum Mund hob.
„Sie sollten MIR Kaffee holen, nicht SICH!“ Martini setzte die Tasse wieder ab. „Bitteschön...“ und er stellte sie auf den Schreibtisch. „Wenn sie unbedingt kalten Kaffee trinken wollen...“ Er klang etwas beleidigt, behielt aber seine Fassung.
„Besorgen sie einen neuen – SOFORT!“, schrie der Chef und Martini zuckte mit den Schultern und verließ – mit wallendem Haar – den Raum. Ließ aber die Tür offen. Der Chef sank in seinen Sessel und massierte sich die Schläfe.

„Würde wohl eine von Ihnen so freundlich sein und...“ Karmesin schloss leise die Tür. Er deutete auf das Sofa und fast schon eingeschüchtert setzten sie sich.
„Ich muss mich entschuldigen“, sagte der Chef in ruhigem Ton.
„Inzwischen meldet sich andauernd die Presse und eigentlich wäre André...“ Er brach mitten im Satz ab und begann neu zu fokussieren. „Es geht alles noch ziemlich drunter und drüber. Eigentlich hätte ich sie viel früher sprechen wollen, aber ich hatte auch so schon genug zu tun.“ In diesem Moment klingelte das Telefon, aber es war kein Sekretär da zum Abheben, also zog der Chef kurzer Hand den Stecker.
„Sonst haben wir keine ruhige Minute.“, erklärte er. Er wirkte diesmal irgendwie nicht wie der Chef. Jetzt, wo ihn sein Sekretär in der Stunde der Not im Stich gelassen hatte, war er ziemlich aufgeschmissen. Er schien noch nicht einmal verwundert darüber, dass Lika und Adarwen fehlten und dass stattdessen Karmesin auf dem Sofa saß.
„Dann können wir ja anfangen. Ich hätte gerne, dass sie mir berichten, was gestern vorgefallen ist.“

War ja klar, dass sie von diesem Mann keine Antwort erwarten konnten.
„Gut...“, meinte Thalia etwas überrumpelt, aber gerade, als sie anfangen wollte zu berichten, wurde sie von Nea abgemurkst, die ihrerseits den Tag des Finales Revue passieren ließ. In einer leicht abgeänderten Fassung, allerdings. Sie ließ aus, dass sie ursprünglich am Diebstahl beteiligt gewesen war und zusammen mit André geplant hatte, die Diebe auszutricksen. Sie erwähnte auch nicht, dass Eyffl Moorstab entkommen war und dass sie das Turniergelände nach ihren Freundinnen abgesucht hatten. Aber sie merkte an, dass sie die zwei – genau wie André – seit gestern Abend vermissten. Am Schluss sah sie zu Thalia, die sie düster ansah und nickte und zu Sadira, die nur eine Augenbraue hob.

„Sie wissen also auch nicht, ob die Attentäter – wir haben übrigens keine Bestätigung oder Stellungnahme zu den Anschlägen, es ist also KEINESFALLS sicher, dass es die „Bestienritter“ waren – noch ein anderes Ziel neben Lebensfrost hatten?“

„Außer, das größtmögliche Chaos zu verbreiten und den größtmöglichen Schaden anzurichten?“, meinte Sadira, „Nein.“ Aber ihr brannte etwas ganz anderes auf dem Herzen. „Ist das nicht die Pflanze, die André damals umgeknickt hatte? Wie haben sie die zum Nachtreiben gebracht? Etwa mit diesem neuen Dünger, der nur auf dem Schwarzmarkt zu bekommen ist?“

Der Chef war aus dem Konzept gebracht. Er blickte kurz auf den Blumentopf, der vor seiner Nase auf dem Schreibtisch stand. Ein kleines Pflänzchen hatte sich seinen Weg aus der Erde gebahnt, wo immer noch der verdorrte, alte Stängel herausragte. Der Kopf des Chefs begann sich wieder puterrot einzufärben.
„Meine Zimmerpflanze geht sie überhaupt nichts an! Und Überhaupt? Was tut das jetzt zur Sache? Mein Sekretär ist abgehauen, glauben sie, da kann ich mich über dieses Unkraut freuen?“

Thalia verschränkte verärgert die Arme vor der Brust.
„Wozu haben sie uns überhaupt kommen lassen, wenn sie uns doch nur anschreien?“ Zugegeben, der Chef war überarbeitet und Sadiras Beitrag zum Gespräch war wenig konstruktiv, aber deswegen konnte er noch lange nicht mit ihnen umspringen, wie wenn, so wie Nea es formuliert hätte, er sie bezahlen würde. Der Chef versuchte also wieder Fassung zu finden, indem er seine Schläfen massierte.

„Ich weiß sehr wohl, dass wir nur ein formales Bündnis mit Ihnen eingegangen sind. Trotzdem würde ich sie gerne darum bitten, uns bei unseren Ermittlungen zu unterstützen. Ich glaube, gerade die Tatsache, dass sie bis jetzt als neutral galten und man sie nicht mit uns in Verbindung gebracht hat, kann uns sehr von Nutzen sein. Lange Rede, kurzer Sinn: Ich möchte sie darum bitten, Lebensfrost wieder zu beschaffen.“
„Ach~jaa...“, sagten alle drei Ritterinnen. Sicher. Warum nicht?

„Also wollen sie praktisch, dass wir ihren Sekretär wieder beschaffen.“, folgerte Sadira. Der Chef starrte sie entsetzt an.
„Das habe ich ... ich meinte... Drücke ich mich so missverständlich aus?!“, schrie er und schlug mit beiden Händen auf den Tisch, dass das junge Pflänzchen zitterte.
„Ich habe sie verstanden“, meinte Nea und erhob sich von ihrem Platz. Sie trat an den Schreibtisch und dem Chef gegenüber.
„Wie viel?“
„50 000.“
Neas Lippen kräuselten sich und wurden zu einem süffisanten Grinsen.
„Sie meinen also 50 000 im Voraus.“ Der Chef blickte verwirrt. Er hatte nicht vorgehabt, irgendetwas im Voraus zu zahlen, abgesehen davon sollte das die gesamte Gage sein. „Nochmal das Doppelte, wenn wir ihn hier abliefern und wir sind dabei. Stimmt’s?“ Thalia und Sadira gaben undefinierbare Antworten von sich, nickten und schüttelten den Kopf gleichzeitig und zuckten mit den Schultern. Es war eine sehr schlechte Idee, zwischen Nea und ihre Beute zu kommen. Man konnte den Kopf des Chefs rauchen sehen. Schließlich nickte er bekräftigend. Nea schlug zum Deal mit der Hand auf den Tisch.
„Wir sind dabei.“
„Wir werden uns gleich auf den Weg machen“, sagte Karmesin von ihrem Platz aus und erntete fragende Blicke.
„Na schön, ich gehe...“, seufzte sie.
„Wir gehen auch“, schloss sich Thalia an und sprang auf. „Und wir melden uns, wenn wir was rausgefunden haben.“ Und sie zog Nea und Sadira mit sich zur Tür. Auf keinen Schnürvertrag einlassen! Keine festen Versprechungen machen! Unabhängig bleiben, das war jetzt wichtig.

Martini hatte offensichtlich an der schalldichten Tür gelauscht und schlich sich jetzt, da die Ritterinnen forschen Schrittes auf ihn zukamen, mehr oder weniger unauffällig davon.

„Na toll, Nea!“

„Was denn?“

„Haben wir irgendeinen Anhaltspunkt?“

„Wir finden schon einen.“
„Zufällig ist unsere Spionin eigentlich diejenige, die dafür zuständig wäre. Und sie ist – na ihr wisst schon.“

„Vielleicht sollten wir warten, bis sie uns findet?“

„Ich werde jetzt jedenfalls nach Hause fahren, wo mein Phönix bestimmt schon auf mich wartet“, meinte Karmesin guten Mutes und verneigte sich, bevor sie zu der Kutsche ging, die für sie bereitgestellt wurde.

„Nach Hause!“, fiel Thalia auf einmal ein. „Hat eigentlich schon irgendjemand bei André zu Hause nachgesehen?“

Sadira hob eine Augenbraue. „Wenn André zu Hause wäre, wäre er doch nicht verschwunden, weißt du? So was wäre dann Urlaub, oder so.“ Thalia schüttelte den Kopf.

„Aber nur, wenn man davon ausgeht, dass André eigentlich zurückkommen will. Wir gingen ja die ganze Zeit von einer Entführung aus. Aber wie sagte Karmesin? „Morgen wird uns ein großer Held verlassen“? Oder „von uns gehen?“ Das bedeutet, dass er freiwillig gegangen ist.“

„Was macht das für einen Sinn...?“, bezweifelte Sadira noch immer die Argumente der Hexe.

„Vielleicht hat er uns einen Hinweis hinterlassen!“, klinkte sich jetzt auch Nea mit ein. „Lebensfrost hat sich ja nicht von selbst ausgetauscht.“

Auf Sadiras Gesicht breitete sich ein fettes Grinsen aus. „Die Idee gefällt mir... Sekretär am Tag – Bekämpfer des Bösen in der Nacht! Hey – wartet!“


Lasst uns eine Vermissten – Anzeige aufgeben!


Personalakte 194: André Hibis

Ich habe diese Akte eine Woche nach dem ersten Kontakt mit der Person und nach den ersten äußerlichen Beobachtungen angelegt. André Hibis ist männlich, ca. 1, 82 Meter groß, wiegt ca. 75 Kilo und hat schätzungsweise Schuhgröße 41. Das Alter konnte ich nicht feststellen, da er ein Halbelf ist, laut eigener Aussage. Er hat spitze Ohren. Das erste Mal angetroffen am Eingang zum Hauptsitz des Amts zum Schutz für Normalsterbliche. Dort ist er Generalsekretär und die rechte Hand des Chefs. Anscheinend auch sein Hirn.

Dank Sadiras Kompetenz weiß ich jetzt ebenfalls, dass er ledig und in keiner Beziehung ist. Hat eine außerordentlich beeindruckende Singstimme. Kann nach Sadiras Unterricht reiten und mit der Hellebarde umgehen.

Stammt möglicherweise nicht aus unserer Welt. Stammt höchstwahrscheinlich nicht aus unserer Welt.

Wohnt in einem schmalen Fachwerkhaus in .... Vollständige Adresse ...

Hält sich einen Wolf als „Gefährten“. Hat auf seinem Dachboden jede Menge Kram, unter anderem Rüstungen, magische Musikinstrumente, Tränke, deren Wirkung ich aber noch nicht untersuchen konnte, Waffen etc. Führt Doppelleben? Scheint älter zu sein, als zuerst angenommen, ist nicht zu unterschätzen. Habe ein Buch mit dem Titel „Die Chroniken des Helden André Hibis“ gefunden, es stammt aus der angegliederten Welt Toril, die anscheinend seine Heimat ist. In diesem Buch ist seine gesamte Vergangenheit niedergeschrieben. Leider in einem langatmigen, ausschweifenden Geschichts- Schulbuch – Stil, weswegen ich noch nicht sehr weit gekommen bin. Das Buch wird mir vielleicht Auskunft darüber geben, weshalb er sein Leben als Abenteurer hinter sich gelassen hat, in diese Welt kam und SEKRETÄR wurde. Das würde ich nur zu gern wissen.


Adarwen



Um ihre Chancen zu erhöhen, beschlossen Nea, Sadira und Thalia sich aufzuteilen. Thalia flog mit Arco zu Loch Ness zurück, Sadira schnappte sich Nea und teleportierte sich direkt vor Andrés kleine Fachwerkhaus, das zwischen die angrenzenden Häuser gezwängt war, als wollte es sich verstecken. Sadira steckte schnell bluewalker weg und klopfte an.
„Lass uns wetten, ob wer auf macht...“, meinte sie noch zu Nea, die probehalber an dem Haus hinaufschaute, um festzustellen, ob man irgendwo besonders gut einsteigen konnte.
„Okay“, meinte sie sofort, was Sadira wieder von ihrem Angebot zurückweichen ließ. Wenn eine Diebin ein Haus betrachtete und sagte, dass jemand da ist, dann war jemand da. Und dieser jemand kam gerade im Inneren die Treppe herunter.

„Das werden die einfachsten 150 000 meines Lebens...“, sagte Nea leise vor sich hin, während sie die Tür beobachtete, die jeden Moment aufging.
„Hallo! Kann ich helfen?“

Pustekuchen, Nea. Es war eine junge Dame, vielleicht Anfang zwanzig, die da die Tür geöffnet hatte und jetzt in Socken auf dem Fußabtreter stand. Sie sah von Nea zu Sadira und wieder zurück.

Die sahen ihrerseits sich gegenseitig an.
„Eeeeeehm.“, meinte Sadira. André hatte nicht zufällig über Nacht eine Geschlechtsumwandlung vollzogen?
Sie sah noch einmal die Straße hinunter. Sie hatte sich auch nicht verteleportiert.
„Eigentlich wollten wir zu Herrn André Hibis. Er wohnt doch hier, oder?“, übernahm Nea das Denken.

„Ja, der wohnt hier. Aber er ist anscheinend weggefahren. Ich bin hier um auf den Hund aufzupassen. Aber er hat da so was erwähnt...“

Ja? Die Gesichter der Ritterinnen hellten sich auf.

„Sind sie seine Tanten? Er meinte nämlich, ich sollte seinen Tanten etwas mitgeben, wenn sie vorbeikommen...“, sagte die Frau etwas zögerlich.

„Genau die sind wir!“, sagte Nea schnell.

Sadira musste schief grinsen.

„Wo habt ihr denn den Rest von euch gelassen?“, fragte die Frau und trat zur Seite, um die beiden reinzulassen.
„Die sind krank geworden... und so“, antwortete Sadira und trat mit Nea ein.
„Ach so... ich bin Sigrid.“, stellte sich die Frau vor.
„Ich bin nur eine Studentin, die sich was mit Hundesitten dazu verdienen will....“ Sie führte sie an der steilen Treppe vorbei in das Hintere des Hauses, dort, wo sich die Küche befand. Sadira pfiff, aber kein Wolf zeigte sich. „Der ist gerade Gassi mit einer Freundin.“, erklärte Sigrid und öffnete die Küchentür.

Die Küche sah sehr sauber und dadurch recht verlassen aus. Das Geschirrtuch hing ordentlich über der dafür vorgesehenen Stange und kein Glas oder ähnliches stand herum und wartete darauf gespült zu werden. Auf dem Tisch allerdings, der recht groß war für einen Ein-Mann-Haushalt, stand ein großer Weidenkorb, der mit einer Art Picknicktuch abgedeckt war.

„Ich konnte es nicht lassen und drunter schauen.... Ist eine von ihnen Geologin, oder so?“

Sadira und Nea traten an den Tisch heran und lüpften mit einer leichten Ahnung einen Tuchzipfel. Lebensfrost. Der Kristall, der so viel Probleme verursacht hatte, spiegelte frech ihre Gesichter und leuchtete sie mit einem leichten hellblau an.
„Das ist also der... Quarzkristall, den er mir aus dem.... Schwarzwald mitgebracht hat!“, bluffte Nea.
„Ich sammle die Teile.“, fügte sie Sigrid zugewandt hinzu.
„Ach und.... unser Neffe hatte uns versprochen, dass wir einige Dinge von seinem Dachboden für einen Flohmarkt haben können... Ich denke, das dürfte kein Problem darstellen, wenn wir das ohne ihn machen.“ Nea erntete zwar einen sauren Blick von Sadira, die sich schon den Korb geschnappt hatte (sie war wahrscheinlich auch die einzige, die das schwere Teil freiwillig tragen wollte), stieg aber trotzdem im nächsten Moment die Treppe nach oben, angezogen von den zahlreichen Schätzen, die unter dem Dach dieses Hauses ruhten.


Als sie die Luke in der Decke des ersten Stockwerkes öffnete, flatterte ihnen ein Zettel entgegen.

„Alles, was ihr braucht, befindet sich schon im Korb. André“

Neas Augenbraue begann zu zucken.
„Ach... unser lieber NEFFE...“ Sadira seufzte. „Er ist uns anscheinend immer einen Schritt voraus.“

Nea zerknüllte den Zettel zu einem winzigen Klümpchen.
„Aber ich bin mir fast schon sicher, dass er nicht an den Lampenschirm gedacht hat, den ich verkaufen wollte...“ Ungefragt und in ihrem Tatendrang keinesfalls gedämpft, benutzte sie Sadira als Leiter, um das oberste Geschoss des Hauses zu betreten. Aber von der bunten Vielfalt, die sie damals ins Staunen versetzt hatte, war nichts mehr vorhanden. Aufgeschreckt von Neas plötzlichen Eindringens erhoben sich zwei Tauben, die auf dem Rand des geöffneten Dachfensters gesessen hatten. Alle Schränke waren leer, alle Kleiderständer kahl. Demonstrativ waren alle Kisten aufgeklappt, damit man ihre sauberen Innenwände betrachten konnte. Sadira und Sigrid, die unten standen, vernahmen von oben nur einen verzweifelten Aufschrei.
„Ist... alles in Ordnung?“, fragte Sadira ihre Freundin, als diese sich vom Lukenrand gleiten ließ.
„Wir sind hier fertig.“, sagte Nea nur, ihr Blick noch immer von Enttäuschung gefüllt.

Das nächste, was sie sagte, war ein

„Bring uns nach Hause.“, als sie wieder vor dem Haus standen und sie hielt sich an Sadiras Arm fest. Wiederum seufzte Sadira und teleportierte sie auf den Hof der Ritterinnenburg. „Dieser MISTKERL!“

Nea konnte sich nicht mehr zurückhalten, als sie erst mal unter sich waren.
„Haut einfach ab und nimmt ALLES MIT!“ Sie stapfte schnurstracks zum Haupteingang und Schlug Aicyn die Tür gegen die Stirn, der hinter der Tür sehnsüchtig auf ihre Rückkehr gewartet hatte und beim Vernehmen ihrer liebreizenden Stimme vorgeprescht war.

„Sollten wir nicht das hier erst dem ASN zurückgeben?“, fragte Sadira, die immer noch auf der Mitte des Platzes stand.
„Ha! Von wegen!“, wandte sich Nea noch einmal um. „Den hätten wir doch so wieso gewonnen.“ Da war allerdings was dran, dachte Sadira.

„Findest du es nicht gefährlich, dass die Bestienritter hinter dem her sind?“ und sie zeigte auf den Korb in ihrer Hand.
„Immerhin weiß dieser Nekromantiker jetzt, wo wir wohnen.“

„Und wenn schon.“, antwortete Nea trotzig und wehrte Aicyns Annäherungs/Begrüßungsversuche ab,
„Den Idioten haben sie doch so wieso gefeuert.“ Dann verschwand sie endgültig ins Innere der Burg.
Eben das machte Sadira ja Sorgen. Mit dieser Information konnte er sich wunderbar seine Stellung zurückholen. Sie lugte noch einmal in den Korb. Der Kristall war zur Seite gerutscht und entblößte einen kleinen Beutel am Boden des Korbes.


Jemand, der arbeitet!


Thalia stand im fetten Nebel vor dem See von Loch Ness. Um sie herum komplette Stille. Keine Menschenseele.
„Guten Morgen.“

Bis auf den Melonenträger, der kurz von seinem Klemmbrett aufsah, als er an Thalia vorbeiging und dann im Nebel verschwand. Da hatte das ASN anscheinend eine magische Barriere aufgebaut, um den Ort des Verbrechens abzuschotten. Aber Nebel... Nebel war doch ETWAS abgedroschen, dachte sich die Hexe. Sie ließ Arco in seiner geschrumpften Form unter ihren Überwurf klettern und drang in den blassen Dunst ein. Vor ihr tat sich ein Gewusel auf. Beamte, Sicherheitskräfte und Sanitäter rannten von A nach B und Kilometerweise Absperrband wand sich kreuz- und quer über den Platz. In regelmäßigen Abständen wurden Tote auf Bahren davon getragen. Wie sollte sie jetzt an die Sachen kommen, die sie in ihrem Hotelzimmer zurückgelassen hatten?

„Kann ich ihnen helfen?“
Obwohl hier doch alle so überaus beschäftigt waren, wurde sie natürlich sofort als Fremdkörper entdeckt. Ein Herr in schwarzem Anzug und mit grüner Krawatte stellte sich direkt in ihr Sichtfeld.
„Vielleicht schon. Mein Name ist Thalia, also.... ich bin Ritterin. Also ich bin Thalia von der Fünftafel.“ Als sie bemerkte, dass sie eine Bezeichnung benutzt hatte, die Karmesin, die Hellseherin, ihnen gegeben hatte, zog sie vor Verwunderung eine Augenbraue hoch, ein Verhalten, das ihr Gegenüber geradewegs kopierte. „Was ich sagen will, ich bin im Auftrag des Chefs hier.“

„Weswegen?“

„Ich soll das Verschwinden des Generalsekretärs untersuchen.“, sagte sie kurzerhand, was ja auch stimmte. Plus das Verschwinden zweier ihrer Freundinnen.
„Einen Moment... Bewegen sie sich nicht von der Stelle, sonst kommen sie nicht rein.“ Und der Sicherheitsmensch verschwand durch ein eigens geschaffenes Portal. Es dauerte zirka 3 Minuten, in denen sich Thalia umwandte und das irgendwie geordnete Chaos betrachtete, bis er wieder kam.
„Die Inspektorin erwartet sie.“ Der Mann trat zur Seite und gab sein Portal frei.
„Danke.“ ... denke ich mal. , ergänzte Thalia den Satz im Stillen.

Nach einem Schritt stand sie direkt in dem riesigen Gebäude, in dem das Turnier stattgefunden hatte. Wo genau, konnte sie nicht sagen, jedenfalls lag vor ihr ein eher dunkler Gang, bewacht von weiteren Herren in dunklen Anzügen. Hier waren keine Spuren eines Kampfes zu sehen. Am Ende des Ganges konnte man in einen erleuchteten Raum schauen, die Tür stand Sperrangel weit offen. Direkt vor ihre Nase tauchte auf einmal ein weiteres Portal auf, aus dem ein Beamter eilte und den Raum betrat. Ein anderer kreuzte seine Bahn auf dem Weg wieder hinaus. Thalia wäre jetzt gerne einfach umgedreht und auf eigene Faust durch das Haus gegangen, irgendwann hätte sie sich schon zurechtgefunden, aber die Wachen nickten ihr zustimmend zu und so trat sie auf das ominöse Zimmer zu, das als kurzzeitiges Einsatzhauptquartier eingerichtet worden war.


Kommissarin Tinka Stutenhobel war ganz bestimmt nicht begeistert über ihre Einteilung in diesem Fall. Wenn sie es sich genau überlegte, war das das letzte,womit sie betraut werden wollte. Sie hätte sich lieber Urlaub nehmen sollen, wie andere Kommissare des ASN auch, aber NEEEIN, sie musste ja unbedingt so arbeitsbesessen sein und einer Spur folgen, die sie dem Edelsteinduo, dem Fall, dem sie schon fast seit 4 Jahren nachging, endlich näher bringen sollte. Nicht nur näher bringen, sie wusste, dass sie sich auf dem Turnier aufgehalten hatten, aber jegliche Nachforschungen deswegen konnte sie jetzt vergessen. Die Bestienritter mussten ja unbedingt die Party sprengen, im wahrsten Sinne des Wortes, und dieses Chaos hinterlassen. Natürlich waren es die Bestienritter, es war klar ihre Handschrift und es gab seit den Trollkriegen keine ähnliche Gruppierung, die dem ASN derart penetrant und widerlich auf der Nase herum tanzte. Aber da sie das ihrem Chef in diesem Moment unmöglich mitteilen konnte, hatte sie sich mit dem Argument herausgeredet, dass sich noch niemand zu diesem terroristischem Akt offen bekannt hatte. Es war niemand da, der sich freiwillig vor die Presseleute stellte und sie mit ein paar Informationen fütterte. Vor einigen Jahren hätte der Chef das wahrscheinlich noch selbst getan, aber er hatte, wie sie selbst fand, über die Zeit hinweg nachgelassen und war alt geworden. Es war geradezu fatal, dass der Generalsekretär zu solch einem Zeitpunkt verschwunden war.

Mit ihrer Arbeit kam sie kaum voran, die Täter hatten sich das allgemeine Chaos gestern Abend zum Nutzen gemacht und waren längst verschwunden. Sie hatten keine Gefangenen machen können und die Leichen der von den Wachechsen zur Strecke gebrachten Attentäter waren ihrer Identität beraubt. Sie hatten weder Gesichter, noch Fingerabdrücke mehr. Ständig kam ein Inspektor herein, nur um ihr mitzuteilen, dass in dem von ihm untersuchten Gebäudeteil wieder keine eindeutigen Hinweise gefunden werden konnten.

Da klopfte jemand an den Türrahmen. Tinka sah von ihrem Schreibtisch auf, hinter dem sie stand (sie saß sehr selten, da sie zum Nachdenken gerne umher lief).

Die Frau, die ihr von einem ihrer Männer angekündigt worden war, stand im Zimmer und sah sie fragend an. „Guten Tag.“

Ein guter Tag war das sicherlich nicht, aber die Kommissarin erwiderte den Gruß und reichte ihr die Hand. „Oberkommissarin Tinka Stutenhobel. Sie sind?“

„Thalia. Ich bin eine Ritterin.“ Thalia verschränkte sofort die Arme wieder vor der Brust und ihr Überwurf bewegte sich etwas, da Arco sich eine neue Ruheposition suchte.
„Ihr Chef hat uns Ritterinnen losgeschickt, um seine Probleme zu lösen.“

Tinka hob eine Augenbraue. „Dann wollen sie mir mitteilen, dass wir jetzt so zusagen...“

„...Kolleginnen sind“, beendete Thalia den Satz.
„Wir sollten zusammenarbeiten, damit wir endlich voran kommen. Zur Zeit sind meine Freundinnen bei André Hibis zu Hause, um herauszufinden, was hinter seinem Verschwinden steckt. Wir glauben nämlich nicht, dass er entführt wurde. Außerdem wissen wir, dass die Bestienritter hinter dem Angriff stecken und dass ihr Versuch, Lebensfrost zu stehlen höchstwahrscheinlich gescheitert ist. Wir waren gestern Abend direkt mit ihnen konfrontiert.“

Tinka stand der Mund offen.
„Also, Frau... Stuten....hobel...“
„Bitte nennen sie mich Tinka, ich HASSE meinen Nachnamen...“

„Also, Tinka, ich wäre ihnen wirklich sehr dankbar, wenn sie mich auf die Turniergründe ließen, um in unserem Zimmer nach einem Hinweis zu suchen, den André uns vielleicht hinterlassen hat und den wir gestern im Tumult übersehen haben könnten.

Kommissarin Tinka hob beide Hände.

„Langsam. Eins nach dem anderen. Erst einmal werden sie mein Bild des gestrigen Abends, das ich bis jetzt rekonstruieren konnte, um einige leere Stellen erleichtern. Dann können wir gerne gemeinsam die einzelnen Orte des Geschehens abgehen.“

Sie schob Thalia Richtung Tür, anscheinend wollte sie beides miteinander verknüpfen, als es draußen auf dem Gang einen Tumult gab. Die Wachposten reagierten etwas zu spät, als ein aufgebrachter älterer Herr ins Zimmer stürzte.
„Mein Sohn! Er war HIER, nicht wahr?“

Thalia sah Herrn Lazuli, den reichen Herrn von der Eröffnungsparty außer Atem vor ihnen stehen. Tinka seufzte schwer. „Mr. Lancer, Mr. Quirr. Könnten sie BITTE Herrn Lazuli hinausbegleiten?“

Thalia bemerkte jetzt erst die zwei riesigen Anzugträger, die rechts und links neben der Tür standen. Dass sie sie bis jetzt nicht wahrgenommen hatte, konnte nur bedeuten, dass sie äußerst gut im Unauffälligsein waren. Sie traten zu beiden Seiten des Eindringlings und ergriffen seine Arme.

„Ich möchte, dass sie mir eine ANTWORT geben!“, polterte Herr Lazuli unbeirrt.

Tinka schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Lazuli, das hier hat in keinster Weise Verbindung mit ihrem Sohn.“

„Was machen SIE dann hier?!“, wollte er wissen.

„Ich mache meine Arbeit“ entgegnete sie kühl. Sie nickte ihren Sicherheitsleuten zu, die Lazuli Senior unter viel verbalem, aber keinem körperlichen Widerstand vom Gelände brachten.

„Irgendwie tut er mir ja schon leid....“, seufzte Tinka, als die Störung vorüber war und einen Moment lang Stille eingekehrt war. „Er hat vor 4 Jahren seinen ältesten Sohn in den Trollkriegen verloren und sein anderer Sohn ist verschollen.“

„Verschollen?“, wunderte sich Thalia. Bei dem Überwachungswahn des ASN war es fast schon unmöglich, verschollen zu sein. Der beste Beweis war ja die Ritterinnenburg, die IMMER NOCH NICHT angemeldet war (ja, ja...).

„Sozusagen...“, war Tinkas wage Antwort. Da das allerdings ein Thema war, über das sie jetzt nicht sprechen wollte, ging sie vor und ließ Thalia keine Wahl als mitzukommen.



Wie die Hexe es fast schon befürchtet hatte, war ihr Zimmer fast vollständig durchwühlt worden, wofür Tinka sich sofort entschuldigte. Thalia beförderte alle persönlichen Sachen der Ritterinnen in einen großen Sack und ließ diesen mit einem Wink schrumpfen. Von André war allerdings nichts da.

„Wir sollten uns noch das Zimmer des Barons anschauen.“, war Thalias nächster Gedanke.

Gerade, als Thalia der Kommissarin in den Gemächern des verstorbenen oder besser gesagt zurückgeschickten Barons den Tathergang und die beiden Minotauren der Bestienritter beschrieb, wurden sie von einem Ermittler mit einer dringenden Nachricht unterbrochen. Tinka wurde von einem Spezialisten in den Wald gerufen, in dem die Schattenfuchsjagd stattgefunden hatte. Den Weg dorthin nutzte Thalia aus, Tinka den Rest des Abends zu schildern.

„Dass es ihnen gelungen ist, so viel Chaos anzurichten.... und dabei war ich vor Ort...“ Tinka schüttelte den Kopf, als sie vor einer riesigen Schneise verkohlten Waldes standen, die erst seit gestern Nachmittag existierte. Nach einem guten halben Kilometer weitete sie sich auf ein breitere Fläche aus, wo gerade ein Team beschäftigt war, den Schaden auszuwerten.

„Sie waren vor Ort?“
„Ja, ich ermittelte in einer anderen Sache. Nachdem ich davon erfahren hatte, dass das Edelsteinduo auf der Gala 13 aufgetaucht war, wollte ich ihnen hier zuvor kommen.“

„Aufgetaucht ist untertrieben...“, schnaubte Thalia, worauf Tinka sie fragend anblickte, aber nicht dazu kam, eine Frage zu stellen, da in diesem Moment ein Wissenschaftler auf sie zu kam, der sich gerade die Drachenhauthandschuhe abstreifte.
„Hallo Tinka.... wir haben die Spuren ausgewertet und mussten feststellen, dass sie zu keinem Wesen passen, das in unserer Datenbank erfasst ist. Es waren mindestens zwei Viecher. Mindestens 6 Meter groß. Schwere Statur. Und konnten wie es aussieht Feuer speien.“
„Also eine Neuzüchtung?“, folgerte Tinka. Der Wissenschaftler nickte. „Manthis.“, murmelte die Kommissarin nur und fügte dann erklärend für Thalia hinzu: „Der Mann, der Mammuttrapkel erfunden hat, heißt so. Er ist untergetaucht, nachdem man seine Forschungen verdammt hat.“
„Irgendwo müssen die Bestien der „Bestienritter“ ja herkommen...“, schlussfolgerte Thalia.
„Und noch etwas“, schaltete sich der Wissenschaftler wieder ein, „Auf diesem Feld hier hat es geschneit. In der Struktur hier wurden Partikel gefunden, die... wie soll ich sagen... nicht hier her gehören. Vielleicht war es eine Beschwörung... Wir haben die Veranstalter der Schattenfuchsjagd geprüft. Sie hatten wohl nichts damit zu tun.“
„Könnte es einer der Teinehmer gesehen haben?“
Der Wissenschaftler kratzte sich am Hinterkopf und verzog das Gesicht.
„Die Teilnehmer sind sofort alle abgehauen... es ist schwieriger als wir dachten, sie alle wieder aufzuspüren. Und ob sie reden werden... Das sind Abenteurer, die lassen sich nicht so gern vom ASN in die Karten gucken.“
„Verstehe schon“, seufzte Tinka. „Versucht so viel aus ihnen rauszubekommen wie möglich.“ Sie ließ ihren Blick über den Platz schweifen, wo die Ermittler noch damit beschäftigt waren, alles auf Kamera festzuhalten.
„Wenn das ein Zauber war, dann können sie uns ja vielleicht weiterhelfen, Thalia. ... Thalia?“

Schon als sie auf dem Platz angekommen waren, war Arco von Thalia abgesprungen und zu dem abgesperrten Bereich gerannt, wo der Boden nass vom geschmolzenen Schnee war.

„Hier standet ihr also.“, deutete sie Arcos Erklärungsversuche. Arco wuselte weiter zu einer anderen Stelle, wo er seine Schnauze in das Gestrüpp steckte. Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass die Stelle von Blut gesprenkelt war.
„Was ist da?“ Tinka war dazugekommen und schaute Thalia jetzt über die Schulter. „Ich will dieses Blut untersucht haben.“, rief sie und sofort eilte ein Helfer herbei um eine Probe zu nehmen.
„Ich verstehe es nicht...“, murmelte Thalia. „Es gibt keinen Sinn.“ Sie stand auf und ging auf dem Platz hin und her, begutachtete Unebenheiten im Boden, strich Asche beiseite und schaute gen Himmel.
„Sie waren hier gewesen. Aber sie wurden nicht gewaltsam fortgebracht. Sie sind viel mehr vom Erdboden verschluckt worden oder.... als hätte sich der Himmel geöffnet.“ Tinka stand daneben und versuchte Thalias Gedanken zu verstehen. Die sah jetzt Arco fragend an und der sah fragend zurück. „Du weißt auch nicht, was das war...“, seufzte die Hexe und der Drache ließ den Kopf hängen.
„Aber sie haben gekämpft, keine Frage.“, wandte Thalia sich jetzt wieder der Kommissarin zu, „allerdings kann ich nicht sagen, wo der Schnee herkam. Es ist eher unwahrscheinlich, dass jemand einen Wetterzauber getätigt hat, der braucht seine Zeit und die hätten die Gegner wem auch immer wohl nicht gelassen...“ Thalia schaute auf, zu einer Stelle, wo es im Unterholz raschelte.
„Arco!“ Auf ihrem Befehl verwandelte sich der Drache wieder zu seiner vollen Größe und attackierte den Störenfried.

„Wir ergeben uns, wir ergeben uns! Nicht auffressen!“, hörten sie sofort eine flehende Stimme unter Arco wimmern, noch bevor sie ihn sehen konnten. Der Drache hatte einen Goblin und eine Frau festgenagelt, die jetzt ihre Arme über den Kopf streckten. Der Goblin hatte gesprochen, die Frau hielt die Lippen fest zusammengepresst und ließ schnell ihr Langschwert fallen.

„Okay, Arco...“ Auf Thalias Befehl zog sich der Drache knurrend hinter sie zurück. „Aber wenn ihr wirklich nicht gefressen werden wollt, sollte euer Freund auch herauskommen.“, sagte sie mit etwas erhobener Stimme. Nichts tat sich. Sie seufzte und schickte eine Stichflamme in die Richtung, wo sie die Gegenwart des Dritten spürte.

„Schon gut, schon gut!“, ertönte eine raue Stimme von hinter einem Baumstamm hervor, „Wir ergeben uns auch.“ Ein Halbork mit Bogen kam mit erhobenen Händen dahinter hervor, dicht gefolgt von einem Wildschwein, das zu seinen Füßen trottete.
„Wir wollen nur mit Frau sprechen, die so riecht wie andere Frau...“, erklärte der Goblin.
„Ich rieche wie WER?“, fragte Thalia stinkig und stemmte die Arme in die Hüften.
„Riechen wie Frau mit einem Ohrring und wie Frau mit dem anderen Ohrring... und ein bisschen nach Schwefel... “, fügte der Wicht vorsichtig hinzu.
„Könnten sie sich etwas deutlicher ausdrücken?“, fragte Tinka entnervt. Sie hatte hier 20 Mann, die auf ihren Befehl hörten und sie hatte nicht so viel Zeit.

Der Halbork verpasste dem Goblin einen Tritt mit seinem Stiefel und schob ihn so beiseite. „Die Frauen, die beim Turnier den Pokal von André *knurr* Hibis angenommen haben. Wir haben eine Nachricht... Sucht nicht weiter nach ihm. Es ist sinnlos.“ Dass der Halbork eine äußerst überhebliche Stimme hatte, machte den Inhalt seiner Worte nicht gerade besser... Es ließ eher alle anwesenden Sicherheitskräfte sich einen Meter mehr in seine Richtung bewegen.
„Wartet, wartet.... Uns gefällt das auch nicht gerade, immerhin hat er unseren Meister mitgenommen...“
„Sag mir EINFACH, wo er jetzt ist. Und ob die zwei Frauen dabei sind.“, murkste Thalia ihn ab.
„Er ist zurückgegangen. Nach Toril. Mit Meister Fen. Dumme Frau, wirklich dumm.“, schüttelte der Goblin den Kopf, bevor er noch einen Tritt versetzt bekam.
„André *knurr* Hibis hat uns selbst gesagt, dass ihr nicht nach ihm suchen sollt. Und er wünscht euch viel Glück. Ziemlich viel.“ Der grummelige Halbork kratzte sich am Kopf. „Das war's eigentlich.“ Nicht ganz einverstanden mit dem, was der Halbork gesagt hatte, zupfte die Frau mit den Brandnarben ihm am Ärmel. Sie zog die Stirne kraus, sagte aber kein Wort.
„Schon gut... und ähm...“, fügte er hinzu, „Wir würden gerne abgeschoben werden. Ohne Meister Fen haben wir keinen Grund mehr, hier zu sein. Außerdem haben wir keine Aufenthaltsgenehmigung.“

Thalia war sich ziemlich sicher, dass Nea zumindest nicht sehr glücklich über ihre Neuigkeit sein würde. André war einfach abgehauen. Nach Toril, in die Nachbarwelt von „Unter Kreisen“ und damit ins Multiversum. Sie würde ganz sicher nicht in eine Welt mit unendlich vielen Ebenen gehen, nur um einen entlaufenen Hund zu suchen. Sie konnten ja Suchplakate aushängen. „Haben sie diesen Sekretär gesehen? Belohnung!“ Außerdem wollte sie nicht Schuld daran sein, wenn der Chef des ASN eine Kopfgeldjagd deswegen veranstaltete. Und der war so besessen, sie traute es ihm sogar zu. Das Beste würde wahrscheinlich sein, sie überlegte sich eine schlagfertige Alternative, wo André jetzt war. Sadira würde sich schon was einfallen lassen.
Jetzt galt es erst einmal, Nea irgendwie beizubringen, dass sie sich die Belohnung abschreiben konnte.
„Ich bin zurück!“, rief die Hexe zu ihrer Rückkehr und ließ die Eingangstür hinter sich ins Schloß fallen. Schon preschte Aicyn von der anderen Seite der Halle auf sie zu, nur um in eine von der Diebin ausgelegten Seifenfalle auf dem Boden zu geraten. Thalia sah dem Zentaur nach, als er schreiend an ihr vorbeischlitterte und dann ungebremst gegen die Schlossmauer prallte.
„Ruft einen Tierarzt, ich glaube, es ist was gebrochen. Kannst du mal nachschauen?“, jammerte Aicyn am Boden liegend und streckte alle Sechse von sich.
„Du bist untot. Stell dich nicht so an.“, seufzte Thalia und setzte ihren Weg fort.
„Auch Zombies haben Gefühle.“, sagte er kleinlaut, als schon niemand mehr im Raum war außer ihm und den Gargoyles, die noch recht schläfrig auf ihren Sockeln saßen.

Als nächstes traf Thalia auf Grischmo. Der unruhig vor Sadiras Tür auf und ab ging. Und... waren das Kratzspuren an der Tür? Thalia musste schmunzeln.
„Was ist denn los, Katerchen?“
Als Grischmo sich ihr zuwandte, hatte er einen regelrechten Hundeblick drauf.
„Sie lässt mich nicht rein! Aber ich muss diesen Kristall untersuchen, der sieht so verdächtig wichtig aus... Sadira!“, maunzte er Richtung Tür, aber Sadira hatte es gelernt, Katzen vor Türen zu ignorieren (aber ja, zuerst hatte sie ihm einen Hausschuh nachgeworfen).
Kristall!, dachte Thalia überrascht. Sie klopfte gegen das Türholz.
„Sadira! Ritterinnentreffen in zehn Minuten in der Küche!“
„Alles klar!“, drang gedämpft die Antwort durch die Tür. „Und du hilfst mir jetzt dabei, Nea aufzutreiben!“, befahl Thalia Grischmo, der schon wieder zu kratzen begonnen hatte.
„Na wo Nea ist, kann ich dir sagen.“, antwortete der Shandrane und hielt seine Pfoten still, „Wegen der bin ich doch erst aus meinem Labor gekommen. Die ist vorhin in Adarwens Recherchezimmer gegangen und war da dann ziemlich laut.“
Thalia schnippte mit dem Finger. „Kannst du mich dahin führen?“ Die Hexe hielt sich nicht so viel im Keller auf, sondern mehr in den Türmen des Schlosses und kannte sich deshalb nicht wirklich aus da unten.
„O-okay....“, antwortete Grischmo zögerlich, da er gewöhnt war, dass immer irgendetwas Unvorhergesehenes geschah, wenn er eine Ritterin mit in den Keller nahm.

Diesmal blieb er verschont. Tatsächlich saß die Diebin an Adarwens großem Schreibtisch, knabberte Salzstangen und las eine Akte durch.
„Glaubst du, Adarwen wäre begeistert von dem, was du da machst?“ Nea sah hinter sich, war aber die Ruhe selbst.
„Ich denke schon.“, antwortete die Diebin mit einer Salzstange im Mund. „Doch, ich glaube, sie würde es befürworten, wenn sie in Todesgefahr steckte und ich alles täte, um ihren Aufenthaltsort ausfindig zu machen.“
Thalia hob eine Augenbraue. „Willst du nicht eher Andrés Aufenthaltsort finden, um die Kohle einzustreichen?“
Nea brach die Salzstange ab. „Zugegeben.... das auch. Aber da sich das als schwierig herausstellen könnte, müssen wir erst einmal das gute Darwinelchen finden, damit die für uns dann André findet. Leuchtet ein, oder?“ Die Hexe kratzte sich am Kopf.
„Genau deswegen wollte ich Sadira und dich jetzt sprechen... wie ich hörte, habt ihr einen Kristall...?“
„Ach Lebensfrost, ja... der ist oben.“
„Ihr habt LEBENS-“
„Ja.... wolltest du nicht ein Ritterinnentreffen machen?“
Nea deutete zur Tür und erhob sich. „Sonst diskutieren wir morgen noch hier...“ Und bevor sie zur Tür hinaus ging schnappte sie sich noch schnell ihre restliche Packung Salzstangen.
Da es draußen inzwischen schon dunkel geworden war, hatte Sadira in der Küche hinter dem Gewächshaus die Abendbeleuchtung angemacht. Zusammen mit den hundert Glühwürmchen tauchten die langen Kerzen den Wasserfall in ein schummriges Licht. Immer wieder hörte man gedämpftes Flügelschlagen oder irgendetwas huschte in der Finsternis der Pflanzen über den Boden.

Als Thalia und Nea zusammen mit Grischmo ankamen (Aicyn durfte nicht dabei sein. Immerhin war er ein untotes Geschöpf, das vielleicht noch von seinem Meister unter Kontrolle stand oder beobachtet wurde), stand der Weidenkorb mit dem riesigen Kristall schon auf dem Tisch.
Grischmo rannte schnell näher. Er kam allerdings schnell zum Stehen, als Sadira ihm den Weg verstellte.
„Stopp!“, sagte sie und schob ihn einen guten Meter zurück, „Wie du sehen kannst, Thalia, hat André uns ein Abschiedsgeschenk hinterlassen.“
„Allerdings...“, meinte die Hexe und setzte sich auf einen der Stühle.
„.... er ist nämlich ausgewandert. Nach Toril.“
Nea hatte sich gerade niederlassen wollen, sprang aber sofort wieder auf.
„... und wir werden nicht mehr nach ihm suchen“, beendete die Hexe ihre Rede.
„Dito.“, nickte Sadira. Nea setzte sich schmollend wieder auf ihren Platz. „Naja, wir wissen, wo er ist, dafür muss der Chef uns auch irgendwas geben...“

Thalia wechselte das Thema. „Was unsere Mitstreiterinnen angeht... sieht es nicht sehr gut aus. Ich kann nur sagen, dass sie vielleicht gekidnappt wurden und die Bestienritter etwas damit zu tun hatten. Höchstwahrscheinlich. Vielleicht sollten wir uns noch mal mit diesem Eyffl in Verbindung setzen. Oder sonst einem von diesem Haufen. Die Kommissarin vor Ort erwähnte einen Manthis...“
„Das halte ich für eine nicht so gute Idee...“, sagte Sadira und auch Nea schüttelte den Kopf.
„Naja, jedenfalls mit der Information, dass es plötzlich geschneit hat und dann jegliche Spur fehlt, kann ich jedenfalls nichts anfangen!“, schnaubte die Hexe.
„Es... hat geschneit?“, fragte Sadira verwundert. Ihre Verwunderung rührte nicht davon her, dass es im August geschneit hatte, sondern, weil sie eine solche Situation schon einmal erlebt hatte und ihr Wiederauftreten recht schlüssig erschien in diesem Zusammenhang.
„Das letzte Mal, als ich Schnee zu so einer Jahreszeit sah... naja, es war Juni, aber jedenfalls...“, grübelte sie. Dann verstummte sie. Dann schlug sie sich mit der Hand gegen die Stirn.
„Oh Mann, warum bin ich nicht gleich drauf gekommen!“



Die Prüfung

Lapis durchbrach mit einem Nieser die Stille. Sofort wurde ihm von Onyx ein Taschentuch gereicht. Niesen war eindeutig ein schlechtes Zeichen. Er wollte sich jetzt nicht auch noch eine Erkältung geholt haben.

„Gesundheit...“, sagte Calla mit rauchiger Stimme.

Diese Frau war einfach nur gruselig. Sie lehnte an der Wand neben ihrem überdimensionierten Portrait und hatte nicht eine Sekunde ihre Augen von ihm gelassen... Natürlich ignorierte er es. Er konnte nur hoffen, dass die beiden Ritterinnen bald von ihrer Prüfung wieder kamen. Sie hatten nach einer langen Diskussion doch ihre Rahmen berührt und waren verschwunden. Großer Fehler, seiner Meinung nach. Vielleicht hätten sie nicht gleichzeitig teilnehmen sollen, dachte er, so wie diese Adarwen auch gemeint hatte. Aber da Calla laut Onyx hier die Wahrheit gesagt hatte....
„Wie lange dauert diese Prüfung eigentlich?“, wagte er nach langem Ringen mit sich selbst Calla zu fragen.
„Keine Ahnung... Seid ihr sicher, dass ihr die ganze Zeit hier sitzen bleiben wollt? Mir ist schon ganz schön heiß... euch nicht?“, war ihre erwartet zweideutige Antwort.


„Nein.“, antwortete er kühl und untersagte Onyx mit einem Blick, seinen Pullover auszuziehen, den er als Ersatz für seinen ruinierten von Calla bekommen hatte. Onyx ließ den Pulloversaum wieder los. Sie zuckte mit den Schultern. „Also ich geh was Trinken... ihr könnt ja nachkommen, wenn ihr wollt.“ Und sie stieß sich mit dem Pump von der Wand ab und ließ sie alleine in der Affenhitze zurück.

Sobald sie die Luke hinter sich geschlossen hatte, hielt Lapis es nicht mehr aus. Er sprang auf und kickte mit einem Aufschrei des Zornes gegen die Mauer. Dass sie ohne Kratzer standhielt, musste wohl heißen, dass dieser Raum in die massive Felswand gehauen worden war, die wohl noch kilometerweit ging.
„Wer weiß, ob die zwei ÜBERHAUPT irgendwann wieder kommen!“, fluchte er. Onyx zupfte noch einmal an seinem Pullover.
„Dann zieh ihn eben aus...“, seufzte Lapis und ließ sich wieder neben ihm nieder. Onyx sah zu ihm herunter.
„Warten?“

„Warten.“, grummelte sein Partner.



Sofort als Lika in das leere Bild gezogen worden war, veränderte sich ihre Umgebung. Im nächsten Moment stand sie in einem anderen Raum, die Sonne schien zu den scheibenlosen Fenstern hinein und es war angenehm warm, wie am Morgen eines Sommertages. Bei genauerem Umsehen, erkannte sie, dass sie sich in dem Zimmer befand, in dem sie heute Morgen aufgewacht war. Es war reichlich ausgeschmückt und mit schweren Möbeln ausgestattet. Neben ihr stand ein Massivholzbett mit weißem Bettzeug. Und in diesem Bett lag eine Frau. Es war eine wunderschöne Frau mit langen, glatten, elfenbeinfarbenem Haar, sie schlief noch ruhig und fest, deshalb verkniff sich Lika ein „Verzeihung!“ und schlich sich schnell zur Zimmertür. Gerade, als sie sie öffnen wollte, kam ihr jemand von der anderen Seite zuvor. Eine weitere Frau, mit dunklem Teint stand ihr gegenüber, sie balancierte mit einer Hand ein Tablett, auf dem sich ein Teller mit Essen, ein Becher und ein Krug befanden. Sofort machte Lika einen Satz nach hinten und stammelte eine Entschuldigung, aber die Frau ging geradewegs durch sie hindurch.

„Meisterin Feanie, es ist Zeit aufzustehen!“
Die gerade hereingekommene und durch Lika durchgelaufene Frau stellte das Tablett neben dem Bett ab und wartete darauf, dass Leben in die Schläferin kam.

„Habt ihr gut geschlafen?“

Die Dame mit den Elfenhaaren schlug die Bettdecke zurück und setzte sich auf.

„Nicht wirklich.“ Ihre Stimme klang besorgt. Sie streckte ihren zierlichen Körper und ließ sich das Tablett auf den Schoß setzen.

„Hattet ihr eine Vision?“, fragte ihre Dienerin.

„Ich hab dir doch gesagt, dass du mir das Frühstück nicht ans Bett bringen sollst. Ich werde träge. Und nein, ich hatte keine Vision. Ich habe nur ein schlechtes Gefühl. Was hinsichtlich unserer Lage wohl jeder in dieser Burg haben dürfte.“

Lika hatte verstanden, dass die Menschen sie nicht bemerkten und trat ans Bett heran. Vielleicht war sie in der Vergangenheit. Vielleicht waren das die Erinnerungen von Atis Feste. Sie sah aus dem Fenster. Anstatt einer verschneiten Ebene blickte sie auf weites Grasland, eine große Weide, auf der in Frieden eine Herde geflügelter Pferde grasten. Sie sah die Frau im Bett noch einmal an, konnte aber keine Ähnlichkeit mit ihr bekannten Menschen feststellen.

„Der General holt euch in einer halben Stunde zur Konferenz ab.“, sagte die Dienerin und richtete solange die Kleidung der Dame zurecht.

„Das ist aber sehr nett von General Raimstedt.“, sagte Feanie und ein kleines Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

Lika griff nach einem Apfel auf dem Tablett und griff durch ihn hindurch. Oh je..., dachte sie, wie Grischmo – nur schlimmer. Hieß das, dass sie diesen Raum nicht verlassen konnte? Vielleicht war es wichtig, dass sie diese Frau begleitete, die ein ungutes Gefühl hatte und anscheinend Visionen bekam, auch wenn sie es nicht gut fand, dass sie sie so zusagen beschattete. Sie fragte sich außerdem, ob Adarwen jetzt wohl in derselben Situation war.

„Seid ihr fertig?“, fragte die Dienerin und nahm auf das Nicken ihrer Herrin das Tablett wieder weg.

„Ich habe gehört, dass die Schlachtenmeisterin einen neuen Plan vorstellen wird.“, sagte sie und half Feanie beim Anziehen.

„So so, Peony, hast du gehört...“

Die Dienerin musste verlegen lachen. „Ich gebe es zu, Fuchsie hat es mir verraten.“

Feanie schüttelte milde lächelnd den Kopf.
„Langsam habe ich tatsächlich das Gefühl, ihr Tosaren seid diejenigen, die am besten unterrichtet sind hier in der Burg. Eure Kommunikation funktioniert wirklich einwandfrei.“

„Zugegeben, das meiste ist Tratscherei.“, wandte Peony verlegen ein.

„Holst du mir bitte triple spiral?“, bat ihre Meisterin und band sich den Gürtel über dem langen Gewand fester. Lika sah sie überrascht an. Hatte sie richtig gehört? triple spiral? Sie fasste sich reflexartig an den Hals, aber keine Miniaturgabel hing an ihrer Kette. Stattdessen kam Peony jetzt vom Schrank zurück und trug die zum Dreizack verwandelte Waffe ihrer Meisterin vor.

„Wollt ihr noch einmal den Orakelraum aufsuchen, bevor die Besprechung beginnt?“

„Natürlich.“, antwortete Feanie und trat vor die Tür, so dass Peony sie ihr öffnen konnte, „schließlich bin ich das Orakel.“

Likas Gedanken rotierten immer schneller, als sie den zwei Frauen die Treppe hinab folgte, als sie genau den gleichen Weg beschritten wie Calla mit ihnen vor nicht mal einer Stunde noch. War diese Frau vor ihr – war das Orakel – eine Ritterin aus früherer Generation? Oder war sie vielleicht sogar die erste Ritterin?

Sie überquerten den Innenhof und an wem sie auch vorbei kamen, er verneigte sich vor Feanie. Der Innenhof... Die Reiterstatue im Atrium stand auch jetzt schon, nur das Pferd hatte Flügel, an die sich Lika nicht erinnern konnte. Vielleicht waren sie inzwischen abgebrochen. Auch die Obstbäume, wie sie hier zu sehen waren und in voller Blüte standen, mussten inzwischen erfroren sein. Eines fiel ihr noch auf. Die meisten Menschen, die hier geschäftig herum liefen, hatten Peonys Haut- und Haarfarbe und trugen Bedienstetenkleidung. Die Wachen und die vornehm Gekleideten unterschieden sich deutlich von ihnen.

Aber Lika hatte keine Chance, die Menschen weiter zu studieren, weil Feanie gerade die Treppe auf der anderen Seite des Platzes hinabstieg und sie beeilte sich, um den Anschluss nicht zu verpassen.

„Feanie, Feanie!“
Das Orakel blieb mitten auf der Treppe stehen und wandte sich nach der Rufenden um. Eine Frau mit Brille und geflochtenem Zopf kam ihr hinterher gerannt und wäre gerade auf Likas Platz stehen geblieben, wenn diese nicht schnell ausgewichen wäre.

„Guten Morgen, Iatizma.“

Iatizma holte Luft.

„Seid ihr auf dem Weg zum Orakelraum? Habt ihr etwas dagegen, wenn ich mitkomme?“
„Nicht doch. Kommt ruhig mit.“

Sie setzten ihren Weg fort, durch das diesmal gut von vielen Wandleuchtern ausgeleuchtete Untergeschoss und Lika sah zum ersten Mal die Malereien an der Gewölbedecke. Sie sah jede Menge Pferde, die in einem Kreis um ein schwarzes Loch flogen und einige Personen, die sie in der kurzen Zeit nicht weiter zuordnen konnte. Einer sah Grischmo irgendwie ähnlich. Oder er hatte eine braune Schleife in den Haaren. Eins von beidem.

„Wollt ihr eine Voraussagung machen?“, fragte Iatizma neugierig.

„Von Wollen kann man wohl kaum sprechen. Aber eine Weisung vor unserer Besprechung wäre wohl nützlich. Was führt euch in den Orakelraum?“

Iatizma war etwas nervös als sie antwortete.
„Naja, ich bin doch gerade dabei, alles aufzuschreiben. Für die, die nach uns kommen.“

Inzwischen waren sie nach einer weiteren Treppe am Ende des Ganges vor einem großen zweiflügeligen Tor angekommen. Die Wachen machten Platz.

„Ihr sprecht so negativ...“, seufzte Feanie. Sie legte Iatizma die freie Hand auf die Schulter. „Wie oft soll ich es noch sagen. Ich habe euren Tod nicht gesehen.“

Das Tor wurde geöffnet.

Der Raum, der sich Lika eröffnete, kam ihr bekannt vor. Er war groß und leer, der Boden schimmerte seltsam im Licht der Kristalle, die die Decke bildeten. Auf der anderen Seite des Raumes waren 5 Lichtsäulen zu sehen. Davor stand ein hoher Stuhl. Es gab hier keine Lava, aber es war unverkennbar der Raum, in den Calla sie geführt hatte. Lika hatte so viele Fragen, sie wollte am liebsten Feanie mit beiden Händen packen und schütteln und sie ihr ins Gesicht werfen, aber sie konnte nichts tun und musste geduldig sein und ausharren, was als nächstes geschah.



„Bitte lasst heute keine Bittsteller herein.“, wandte sich Feanie noch an die Wachen, bevor sie die Tür hinter sich zuzog. Lika fand, dass die Leute hier ruhig etwas offener sein sollten und sie fragte sich, ob man auch innerhalb einer Erinnerung irgendwann aufs Klo musste.

„Warum habt ihr eigentlich eure triple spiral dabei?“, fragte Iatizma, „Habt ihr vor, irgendjemandes Erinnerungen einzusehen?“

Oh... diese Fähigkeit von triple spiral war Lika bisher nicht geläufig gewesen. Wenn Feanie das mal eben vormachen würde, vielleicht?

Feanie schüttelte den Kopf. „Ich habe sie lieber bei mir, falls etwas Unvorhergesehenes passiert.“
Und das aus dem Mund einer Hellseherin...

Iatizma kratzte sich am Kopf. „Vielleicht sollte ich auch skyblocker...“
skyblocker?! Diese Frau war im Besitz von Neas...?

Nein, wahrscheinlich war es eher umgekehrt.

„Ich habe ihn lieber in der Kirche stehen. Das gibt den Leuten ein Gefühl von Sicherheit. Auch, wenn ich lieber nicht daran denke, dass wir eingenommen werden...“

„Meine gute Iatizma, ihr solltet etwas mehr Vertrauen in den Plan der Königin haben. Ihr könnt euch wirklich auf eure Schwestern verlassen. Als Priesterin solltet ihr euch keine Gedanken machen.“

Iatizma seufzte skeptisch.

„Ihr als Orakel auch nicht. Und doch lauft ihr mit eurer Waffe herum. Natürlich mache ich mir meine Gedanken. Es will hier niemand aussprechen, aber wir befinden uns im Krieg. Und diese Burg darf nicht fallen. Wir haben eine sehr wichtige Aufgabe, nein, eine heilige Pflicht zu erfüllen und deshalb müssen wir diese Burg verteidigen. Und wenn alle Kräfte versagen, ist es an mir, den letzten Raum zu verschließen und niemanden hinein zu lassen!“

Iatizma bebte am ganzen Körper, nachdem sie ihr Herz ausgeschüttet und alles gesagt hatte, was ihr niemand abnehmen konnte. Feanie senkte den Kopf.

„es tut mir Leid, dass ihr diese schwere Aufgabe alleine tragen müsst. Ich würde sie gerne mit euch teilen. Aber ihr müsst stark sein. Wenn selbst die Priesterin den Mut verliert, wie sollen dann unsere Leute ihr Bestes geben?“ Sie hob den Blick wieder und lächelte Iatizma zuversichtlich an. Das Antwort-Lächeln der Priesterin war etwas bitter.

„Ich bin wohl zu realistisch, um ein leitendes Licht für die Menschen zu sein.“

„Glaubt mir, ich habe schon oft geglaubt, die Zukunft zu kennen und immer wieder wurde ich überrascht. Ah – General Raimstedt!“

Lika erschrak etwas, als Feanie sie direkt anblickte und bekam einen regelrechten Schock, als im nächsten Moment ein großer Mann von hinten direkt durch sie hindurch ging.



General Raimstedt war nicht nur hochgewachsen, er war fast schon riesig, so dass Feanie neben ihm noch mehr wie eine Fee wirkte, klein und zerbrechlich. Er begrüßte Iatizma mit einer Verbeugung, Feanie mit einem Handkuss. Es war recht eindeutig, dass sie viel für ihn übrig hatte, auch wenn sie versuchte, ihre gewohnte würdevolle Haltung und das Gefühl der Unerreichbarkeit zu bewahren. Lika behielt es sich vor, einmal um alle herumzugehen, wo sie schon einmal unsichtbar war und sie konnte deutlich sehen, dass Feanie mit ihrem Fuß scharrte, während sie dem General versicherte, dass alles in Ordnung sei.

„Die Versammlung fängt gleich an.“, eröffnete er ohne Umschweife, „Es ist eine rein militärische Besprechung, eure Anwesenheit ist nicht unbedingt notwendig, aber wir würden uns sehr über sie geehrt fühlen.“

Feanie nickte stumm.
„Ehm... kann ich auch? Ich meine... andauernd kommen Leute zu mir, die sich Sorgen machen und es wäre gut, wenn ich ihnen etwas Beruhigendes berichten könnte.“, meldete sich Iatizma zu Wort, die sich etwas vor kam wie das fünfte Rad am Wagen.

„Aber sicher. Je mehr Reliktträgerinnen, desto besser.“, antwortete er. „Vielleicht habt ihr ja noch einen guten Tipp für das nächste Manöver...“

„Gar kein Manöver wäre mir am liebsten...“ Der Priesterin war es etwas peinlich, als der General laut auflachte und sie war froh, dass außer Feanie (die auch etwas kichern musste), Peony und ihr sonst niemand im Orakelraum war.

„Das sollten sie aber nicht vor versammelter Runde sagen.“, meinte er, als er sich wieder gefangen hatte und zwinkerte. Anscheinend nahm ihn das ganze Kriegsgeschehen und Pipapo nicht sonderlich mit, er schien, im Gegenteil, recht zufrieden mit der Situation.
Die Wachen vor der Tür salutierten, als sie den Raum wieder verließen, ohne orakelt zu haben (was Lika schade fand) und Lika dackelte jetzt inzwischen vier Leuten durch das Schloss hinterher. Allerdings verneigte sich Peony vor der Tür des Versammlungsraumes und wartete dort.
Der Raum war recht klein und nicht besonders ausgeleuchtet, auf dem Boden waren Kissen ausgelegt, in der Mitte stand eine Lampe mit einer einzelnen Kerze, die die einzige Lichtquelle darstellte. Alle anderen waren schon anwesend, eine Frau, die gegenüber der Tür saß, eindeutig die Königin, eine Frau zu ihrer Linken, hinter ihr an der Wand lehnte Sadiras bluewalker. Rechts von ihr eine Frau, die vom Typ her so aussah wie Peony, sie hatte einen dunklen Teint und dafür helle Haare außerdem trug sie stolz eversun an ihrem rechten Arm. Danach kam eine Frau mit wilder Frisur, die gut trainiert war, hinter ihr lag Callas dragon ax auf dem Boden.
Lika fand es schwer, einen Ort zu finden, an dem sie sich unauffällig niederlassen konnte. Sie wählte die Ecke rechts neben der Tür, wo sie noch gut zwischen Iatizma und Feanie hindurch spähen konnte, als diese Platz genommen hatten.
„Gut“, eröffnete die Königin mit warmer Stimme, „Wir sind vollzählig. Ihre Majestät fühlt sich heute nicht wohl und muss uns fern bleiben. Dann bitte ich zuerst Mesa um ihren Bericht.“



Die Frau, die eversun trug, räusperte sich.

„Wir haben die Feindbewegungen längere Zeit beobachtet und können mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit sagen, dass sie in drei Tagen da sein werden. Sie rücken in verschiedenen Etappen an, die Truppen sind recht verstreut." Sie erhob sich bis auf ihre Knie und stütze sich auf einen Arm, um auf der Karte, die unter der Kerze ausgebreitet war, anzuzeigen, wo sich der Feind befand.
„Sie sind hier, hier und hier. Die Hälfte ist also vom vorderen Teil abgetrennt. Der Befehlshaber befindet sich im Zentrum der ersten Hälfte.“ Lika schaute sich die Karte an. Ein Wald, ein Fluss, Hügelland.... sie glaubte nicht, dass irgendetwas davon heute noch existierte. Was hatte Calla gesagt? Der Großvater ihres Onkels war hier weggezogen? Das hatte aber nicht zufällig etwas mit dem Krieg hier zu tun, oder?
„Mein Vorschlag wäre es, da alle Verhandlungen ja sinnlos scheinen, einerseits den Befehlshaber auszuschalten und gleichzeitig aber einen Keil zwischen die beiden Armeeteile zu treiben und dabei erst den hinteren Teil anzugreifen.“ Als Lika wieder aufpasste, redete die Schlachtenmeisterin mit den Zottelhaaren und zeigte mit dem Finger auf der Karte herum.

„Gibt es fliegende Truppen?“

Die Spionin schüttelte den Kopf. „Außerdem schlagen sie ihr Lager zu regelmäßigen Zeiten auf. Das macht einen schnellen Überfall möglich.“
Die Königin nickte.
„Wen willst du dafür mitnehmen, Mesa?“
Die Spionin schaute zu Raimstedt und antwortete: „Zusätzlich zu meiner Tosarentruppe bräuchte ich die Unterstützung von General Raimstedt und 20 seiner Männer.“

„Die könnt ihr haben. Meine Männer sind so gut ausgebildet und bereit wie nie zuvor. Ich nehme an, ihr wollt schnell zuschlagen?“
Mesa nickte.
„In einem halben Tag, wenn meine Läuferin mit ihrem letzten Bericht zurück ist, sollten wir uns auf den Weg machen.“
„Dann sollten sich auch die Truppen auf den Weg machen, die den Keil zwischen die Angreifer treiben sollen. Die Kavallerie ist schnell und flexibel. Ihr sollte es möglich sein.“
„Ihr wollt, dass wir einen Frontalangriff auf Bodentruppen ausführen?!“, meldete sich eine Frau mit Pony und Pferdeschwanz, die einen strengen Blick hatte. Sie war anscheinend nicht wirklich mit dem Plan der Schlachtenmeisterin einverstanden in einer „Warum ausgerechnet ICH?!“- Art und Weise.

„Eine andere Möglichkeit besteht faktisch nicht.“, antwortete Mesa und wirkte dabei äußerst gereizt.
Alle sahen die Königin an, die grübelnd auf die Karte schaute.
„Die Kavallerie ist unser Trumpf. Aber er nützt uns nur zum Angriff, nicht zur Verteidigung der Burg. Und in diesem Fall IST der Angriff die Verteidigung der Burg.“ Sie sah in die Runde.
„Wir haben nichts zu verlieren. Diamata?“

Die Kavalleristin erhob sich.

„Ich hoffe, dass wir euren Plan zur Genüge ausführen können, Majestät. Ich werde sofort meine Reiter benachrichtigen.“

„Feanie? Habt ihr irgendetwas gesehen, was gegen einen Angriff sprechen würde?“

Diamata blieb kurz vor der Tür stehen, um die Antwort des Orakels abzuwarten.
„Tut mir äußerst leid.“, sagte Feanie, „Ich habe überhaupt nichts gesehen.“
„Na dann nehmen wir das als ein gutes Zeichen!“, sagte Raimstedt und erhob sich ebenfalls.
„Wenn ihr entschuldigt... da die Sache ja schon beschlossen ist, würde ich gerne meine Männer auswählen gehen.“
„Ihr seid ebenfalls entlassen.“, verabschiedete ihn die Königin. Raimstedt verließ mit einem fast schon vorfreudigen Gesichtsausdruck den Raum, als freute er sich darüber, dass es endlich los ging.

„Dann hätte ich noch eine Bitte an euch, Iatizma.“, fuhr die Königin fort.

„I-ich?“

„Könntet ihr den Wächter auf der anderen Seite bitten, das Tor zu öffnen? Ich möchte, dass die Einwohner der Burg und des Umlandes sich für eine Evakuierung bereit machen.“
„Evakuierung?“, wiederholte die Priesterin erschrocken.
„Ich möchte lieber auf Nummer sicher gehen. Außerdem können wir unsere Kräfte besser einsetzen, wenn wir uns nicht um Zivilisten Sorgen machen müssen.“

„Also schön...“
„Ich bin mir sicher, dass ihr unsere Gründe überzeugend darstellen werdet.“ Die Königin bedankte sich mit einem Nicken.

Feanie und Iatizma ließen die Königin mit der Schlachtenmeisterin und der Spionin alleine. Während Iatizma jetzt ein Problem mehr hatte, hatte Feanie den Auftrag bekommen, sich auszuruhen, um weitere Vorzeichen erkennen zu können.

„Ich hasse es, den ganzen Tag zu schlafen!“, seufzte Feanie, als sie sich wieder ins Bett legte. Peony hatte Wasser für einen Tee auf dem Kamin aufgesetzt und schwieg. Lika stand am Fenster und schaute hinunter auf das Land, wo auf der Straße ein Zug von Flüchtlingen auf ihrem Weg zur Burg waren. Anscheinend war der Befehl zur Evakuierung des Umlandes schon vor einigen Tagen herausgegangen.

„Sie verstehen es nicht.“ Lika sah zu Feanie, die ebenfalls zum Fenster hinausschaute und scheinbar mit ihr sprach. „Es ist ja auch nicht zu verstehen. Wir sind ein kleines Land, wir sind friedlich, wir haben keine Reichtümer... wie haben sie es herausgefunden...“
Peony stellte geräuschvoll die Teekanne auf den Nachttisch. „Ihr müsst euch entspannen, Meisterin. Wenn ihr euren Kopf nicht freimacht, könnt ihr nicht in die Zukunft sehen.“
Feanie nahm dankend den Tee an und ließ sich dann in die Kissen sinken.
„Du hast Recht, ich muss für ihn die Zukunft...“

Auf Lika herum wurde es auf einmal langsam schwarz, der Raum verschwand und war mit einem Schlag wieder da. Als sie sich vom ersten Schock erholt hatte, merkte sie, dass Feanie gerade ihre Augen wieder geöffnet hatte. Anscheinend waren dies Lücken, die Schlaf im Ablauf der Erinnerung hinterließen. Ein traumloser Schlaf war es gewesen. Wie zuvor stand Peony neben dem Bett. „Ihr wolltet geweckt werden, wenn der General mit Meisterin Mesa aufbricht...“
„Ja, Dankeschön...“, sagte Feanie leicht verschlafen. Sie sah sich verwirrt um, als verstehe sie nicht, warum in ihrem Schlaf nichts passiert war.
„Habt ihr etwas gesehen?“
Feanie zog nur die Augenbrauen kraus und stand schweigend auf.


Auf dem Hof standen schon die Pferde gesattelt und schlugen ungeduldig mit den Flügeln. Raimstedts 20 Männer waren bester Laune und eindeutig von Mesas Spezialtrupp zu unterscheiden, die deutlich angespannt wirkten. Anscheinend hatte sich die Stimmung ihrer Anführer auf sie übertragen. Bei den Ställen war die Stimme der Kavalleristin zu hören, wie sie laut und schlecht gelaunt ihre Truppen zu schnellerem Arbeiten antrieb.

„Wie immer voll bei der Sache, die gute Diamata...“, meinte Raimstedt mit einem Grinsen auf den Lippen. Feanie sah nur weiterhin besorgt zu ihm auf. Der General seufzte laut auf.
„Was soll dieses Gesicht? Freut euch lieber auf meine Wiederkehr! Wie soll man denn mit so einem Gesicht im Hinterkopf in den Kampf ziehen!“

Feanie verschränkte empört die Arme vor der Brust.
„Mein Gesicht bereitet euch also Unbehagen?“

Raimstedt lachte verlegen.
„Schon viel besser! Ich bin untröstlich für mein unzureichendes Sprachvermögen...“ Er strich Feanie mit einem Finger über die Wange.
„Euer Gesicht soll mein Wegweiser nach Hause sein.“
Feanie hielt schnell seine Hand fest, als er sie zurückziehen wollte. Sie wusste um die Ironie des Lebens und traute sich nicht, irgendetwas zu sagen. Abschiedsworte gingen meistens nach hinten los.
„Tjaaa, also dann... solche Nacht und Nebelaktionen liegen mir zwar nicht, aber meine Truppe passt schon auf mich auf.“

„Können wir dann?“
Mesa trat von hinten an sie heran. Feanie ließ seine Hand wieder los und meinte: „Ich überlasse ihn deiner Obhut. Bring ihn mir in einem Stück wieder.“
„Das werde ich.“, antwortete Mesa und nickte.

Danach ließ sich Feanie im Orakelraum einschließen, weil sie sonst keine Ruhe finden konnte. Die ganze Burg war jetzt wie ein Bienenstock mit all den ankommenden Bewohnern des Umlandes und den Soldaten, die sich bereit für den Aufbruch der Kavallerie machten. Die einzige, die ihr Gesellschaft leisten durfte, war Peony. Sie hatte sich auf den Stufen, die den hinteren Teil mit den Lichtsäulen und dem Stuhl vom Rest des Raumes abtrennte, niedergelassen und nähte. Auch Lika hatte sich auf eine dieser Stufen gesetzt und versuchte sich nicht vorzustellen, wie auf einmal ihre Füße in Lava versanken. Feanie saß einfach nur auf ihrem Stuhl, mit geschlossenen Augen, triple spiral quer auf ihrem Schoß liegend. Lika hatte noch nie jemanden so still dasitzen sehen. Es verging eine sehr lange Zeit, in der nichts passierte. Irgendwann verstummten die Geräusche von draußen, was darauf schließen ließ, dass die Truppen sich auf den Weg gemacht hatten.
Dann wurde es wieder schwarz.



In eines anderen Traum zu sein, war noch verwirrender, als in jemandes Erinnerungen herumzulaufen. Lika schwebte regelrecht neben Feanie her, die über nasses Gras schritt, um sie herum Tumult und Feuerherde. Am Himmel schien ein heller Mond, durch dessen Licht sich Zelte aus dem Schwarz der Nacht schälten. Feanie träumte genau das, von dem sie niemals träumen wollte. Vor ihr im Gras lag ein lebloser Körper, ihr General, tot. Lika wich erschrocken einen Meter zurück. Ein huschender Schatten, der sich aus ihrem Blickfeld stahl, ließ sie den Kopf zur Seite reißen und sie sah noch mehr dieser Schatten, immer schneller um sie rotieren. Durch ihren finsteren Schleier sah sie den Rücken einer Frau, es war Spionagemeisterin Mesa, sie blickte noch einmal zurück und ging dann fort. eversun hinterließ eine rote Spur auf dem Gras und über allem hallte Feanies markerschütterndes „NEIN!!“

Dann war der Traum vorbei.

Lika sah sich im dunklen Orakelraum um und eine Stille empfing sie. Sie war von den Stufen aufgestanden und triple spiral lag neben ihr, denn Feanie war von ihrem Stuhl gefallen und lag jetzt ebenfalls auf dem hellen Marmorboden. Peony war über sie gebeugt.
„Wir müssen... die Königin warnen...“, war das erste, was das Orakel herausbrachte, „Raimstedt ist... die Mission...“

„Habt ihr seinen Tod gesehen?“, fragte Peony und ergriff die Hand ihrer Meisterin. Feanie nickte.

Lika trat an sie heran und sah in ihr blasses Gesicht. Sie kämpfte mit den Tränen und versuchte aufzustehen, aber Peony legte eine Hand auf ihre Schulter.

„Das ist gut.“, sagte die Dienerin. Feanie sah sie entsetzt an. Der Dolch, den Peony jetzt zog, hatte ihre Brust schon durchstochen, bevor sie den Verrat begriffen hatte.
„Dann kann ich meine Aufgabe jetzt beginnen.“ Peony hob ihren Kopf und ihr Gesicht wurde von den Lichtsäulen hinter ihnen erhellt. Ihr lag ein bittersüßes Lächeln auf den Lippen.

„Habt einen traumlosen Schlaf, Meisterin Feanie. Ich muss jetzt meinem Volk dienen.“

Feanies Augen huschten hin und her, eine Träne lief ihr über die Wange. Ihre Lippen zitterten, aber ihre Stimme versagte ihr. Erst als ihre Augen leer waren, zog Peony den Dolch aus dem Herzen ihrer Meisterin und stand auf, sie blickte noch einmal auf sie herab, seufzte...
„Tut mir Leid.“ und sie rannte aus dem Raum, der für Lika immer dunklere Konturen annahm.

Sie stand neben Feanie, mit zitternden Knien und wollte etwas tun, um Hilfe rufen, aber sie wusste, dass ihre Stimme nicht gehört werden würde.

Dann erhob sich Feanie von selbst, stand auf, stellte sich neben Lika, den Blick zur Tür gerichtet.

„Ich konnte in die Zukunft sehen, aber ich habe es nicht gemerkt.“

Plötzlich sah sie Lika direkt in die Augen.
„Im Augenblick meines Todes spreche ich, Ritterin Feanie, meinen Wunsch für die nächste Ritterin aus.“

Sie bückte sich und hob triple spiral auf.

„Bis jetzt konnte diese Waffe in die Erinnerungen der Menschen sehen. Ab jetzt soll sie auch die Herzen der Menschen erkennen und ihre Gesinnung, damit die Ritterin nach mir, damit du, niemals Schaden durch die Menschen mit unreinem Herzen nimmst und niemals den bitteren Schmerz des Verrates spüren musst.
Mit diesen Worten legte sie den Dreizack in Likas Hände.
Sie schaute wieder zur Tür, von woher jetzt Lärm in den Raum drang.
„Auch dieses Reich wird untergehen. Das einzige, was wirklich voraussehbar ist, ist eben doch die Tatsache, dass sich alles ändert.“


Mit einem Wimpernschlag war Feanie verschwunden. Lika spürte wieder die Wärme von Lava hinter sich und blickte auf das leere Bild, das sie berührt hatte, um die Erinnerung zu betreten. Das Bild war nicht mehr leer, sondern zeigte ein Bild von ihr, das von so nahem betrachtet eher seltsam wirkte.

Sie trat schnell einen Schritt zurück, gerade rechtzeitig um zu sehen, wie sich von selbst Sätze darunter in die Wand meißelten.


Es war einmal eine Ritterin,

die konnte nicht kämpfen, aber

sie kannte den Gegner. Sie zähmte

die Tiere und sie sprach mit

Spiegeln. Manchmal ging sie auch

hindurch.

Ihr Name war Lika.


Jemand hinter ihr pfiff. Lika fuhr herum und sah Calla, Lapis und Onyx (mit großem Abstand zueinander) hinter ihr stehen. Calla trank einen Schluck Wasser aus einer kleinen Flasche und trat einen Schritt näher.
„Schicker Spruch...“, meinte sie anerkennend. „Aber ich finde, das Bild macht dich etwas dick.“

Lika war noch zu verwirrt, um etwas zu erwidern.

Dann tauchte plötzlich Adarwen wieder auf. Sie kniete auf dem Boden und eversun befand sich wieder vollständig an ihrem Arm, nicht mehr in der Lichtsäule.
Sie war schweißgebadet und ihr Gesicht erzählte vom puren Grauen. Langsam hob sie den Kopf und sah Lika mit panischem Blick an.

„Es... tut mir Leid....“, wimmerte sie.

Lika lehnte schnell triple spiral an die Wand, um zu ihr zu laufen und sie in den Arm zu nehmen.

Was auch immer Mesas Schicksal gewesen war, das Schicksal einer Verräterin.... es musste schrecklich gewesen sein.

Während Lika versuchte, ihre Freundin von dem Erlebten zu beruhigen, erschien auch Adarwens Text unter ihrem Bild.


Es war einmal eine Ritterin,

die hatte 1000 Gesichter. Sie kannte

deinen Vater und deine Großmutter.

Sie konnte dich als dein Schatten be-

lauschen und nachts wie eine Katze sehen.

Ihr Name war Adarwen.


Calla musste leise prusten.
„Du kennst meine Großmutter? Das ist ja sehr interessant. Wer denkt sich diesen Text eigentlich aus?“
„Halt die Klappe!“, schrie Lapis verärgert und erntete von Lika einen verwunderten Blick.

„Was? Tut sie dir leid?“, wurde Calla nur noch weiter angetrieben, die Stimmung zu verhunzen.
„Meinst du, die Vergangenheit meiner Ritterin war ein Spaß?“ Sie warf die leere Flasche über ihre Schulter in die Lava.
„Die Schlachtenmeisterin durfte sich mit einem Haufen wild gewordener Tosaren herumschlagen. Außerdem war das, was die Spionagemeisterin gesagt hatte gelogen. Dämliche Doppelagentin. Das heißt, die Gegner griffen die Burg schon früher an. Das einzige, was sie tun konnte, war die Angreifer so lange abzuhalten, bis evakuiert war. Kein schöner Untergang. Und die Kavallerie kam ja auch nicht rechtzeitig. Deshalb hat sie sich für mich auch eine Rückzugfunktion gewünscht.“
„Ach deshalb lebst du noch.“, sagte Lika trocken und klopfte Adarwen auf den Rücken.
„Aber es scheint, als hätte ich die neue Fähigkeit vorher schon gekonnt, die alte aber nicht.“
„Macht ja auch Sinn...“, meinte Adarwen mit unsicherer Stimme. Sie hatte sich anscheinend wieder gefangen.

„Wir benutzen die Fähigkeiten, die für uns gedacht waren...“ Sie ballte ihre Hand mit eversun daran zur Faust und ließ wieder locker.

„Und ab jetzt könnt ihr auch die anderen lernen.... wenn ihr es schafft.“, sagte Calla. „Können wir jetzt bitte hier raus? Es – wird – warm.“
Hier raus... da fiel Lika etwas ein und sie holte ihre Dimensionsspringerscheibe aus der Tasche.
„Oh, sie ist wieder frei....“



Währenddessen versuchte Sadira den anderen ihren Geistesblitz möglichst verständlich mitzuteilen.
„Also. Das letzte Mal, als wir Schnee im Sommer hatten – es war Juni, aber egal... da hatten wir das Wetter aus einer anderen Welt, weil sich ein Tor dahin geöffnet hatte, ganz kurz und wir bekamen eben deren Wetter ab. Und deswegen... Lika hat doch dieses Ding... Vielleicht hat sie aus Versehen oder aus Notfall die Dimension gewechselt und Adarwen wurde mitgezogen.“
Stille.
„Nee, klar.“, meinte Thalia. „Als ob die mal eben so in 'ne andere Welt verschwinden würden...“
„André...“, hustete Nea.
„Na schön, es ist eine Möglichkeit... und wie kriegen wir sie da jetzt wieder raus?“, gab Thalia zu.
Sadira überlegte kurz.
„Vielleicht kann uns Lexford helfen...“
Also pilgerten sie alle zur großen Bibliothek, obwohl Nea keine Lust hatte, sich noch einmal mit diesem Spiegel zu konfrontieren.

„Wehe, der hat abgeschlossen...“, grummelte Sadira, als sie draußen in der Dunkelheit standen und sie zum Türgriff langte... die jemand von innen runter drückte.
Tadaa...
„Empfangskomitee?“, fragte Lika, die die Tür von der anderen Seite geöffnet hatte.
„Wie seid ihr...?“
„WO WART IHR?! Wir haben uns Sorgen gemacht!“, unterbrach Thalia Sadira wütend.
„Bett...“, murmelte Adarwen nur und wollte sich davon machen. Nea versperrte ihr den Weg.
„Wir haben Calla besucht.“, antwortete Lika ruhig, „Und wir haben Besuch mitgebracht.“
Sie öffnete die Tür ganz und Lapis und Onyx kamen zum Vorschein.
„Yo!“, sagte Lapis und hob zum Gruß eine Hand. Onyx sah sich, die anderen ignorierend, noch immer in der Bibliothek um.
„Erklärung... bitte?“, stammelte Sadira beim Anblick des Edelsteinduos in ihren heiligen Hallen.
„Sehr gerne... aber erst einmal muss ich ausgiebig schlafen... und Adarwen glaub ich auch.“
„Mindestens zwei Stunden länger!“, führte diese aus.
Und so gingen sie gemeinsam zum Haupttrakt der Burg zurück, während Nea, Thalia und Sadira es nicht unterlassen konnten, die Heimkehrer mit Fragen zu löchern... auf Antworten mussten sie allerdings noch etwas warten.

Von hier an wohin weiter?


In der gleichen Nacht drehte Tinka Stutenhobel den Schlüssel im Schloss zu ihrem Apartment um. Auch wenn sie sich mit dem Gedanken beruhigen wollte „jetzt habe ich Feierabend!“, wusste sie doch genau, dass sie niemals Feierabend hatte und schaute immer wieder auf eine kleine Kugel an ihrem Schlüsselanhänger, über den sie mit ihren Ermittlern Kontakt aufnehmen konnte und mit der sie sie ständig mit neuen Erkenntnissen fütterten. Ein Miauen zu ihren Füßen ließ sie hinab schauen. Ihr Kater Ginko wartete schon seit Stunden auf sein Abendessen und sah sie jetzt ungeduldig an. Er strich ihr um die Beine und ging dann ein paar Schritte vor in die Wohnung, um sie zu seinem Napf zu führen.

Tinka machte Licht und warf ihre Tasche auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch im Wohnzimmer. Dieser große Tisch nahm eine mindestens genau so zentrale Rolle ein wie das Sofa, auf das sie umzog, wenn sie wieder mal bei der Arbeit eingeschlafen war. Auch jetzt war er voll gestapelt mit Akten und Zeitungsberichten rund um die Familie Lazuli. Alle Hinweise auf das Edelsteinduo füllten inzwischen zwei Ordner. Ginko sprang direkt auf die Karte, die über allem ausgebreitet war und auf der sie die Orte markiert hatte, an denen die beiden Flüchtigen bis jetzt aufgetaucht waren.

„Ginko! RUN-TER!“

Der Kater nahm bei seiner Fluchtaktion die Personalakte „Stepper“ mit und beförderte sie auf den Boden neben die Zimmerpflanze. Das Familienportrait der Familie Lazuli kam zum Vorschein. Natürlich. Gerade DAS musste heraus rutschen, nachdem Lazuli Senior sie heute den ganzen Tag tyrannisieren wollte. Selbst auf dem Bild wirkte sein Blick auf sie noch anklagend. Er hatte seine Hände auf die Schultern des ältesten Sohnes Vergil gelegt, der vor vier Jahren im Kriegseinsatz gefallen war. Auf dem Bild war er noch ein kleiner Junge. Noch kleiner war sein jüngerer Bruder, der auf dem Arm seiner Mutter saß und neugierig in die Welt statt zum Fotografen sah. Lapis Lazuli. Wer mit so einem Namen gestraft war, dachte sie sich, musste ja irgendwann austicken. Aber natürlich konnte das nicht der einzige Grund sein. Sie wusste seit ihrer Recherche, dass dieser Junge seit Geburt an mit einem schwachen Herzen zu kämpfen hatte und dass es deswegen schlecht um seine Gesundheit bestellt war. Sie wusste, dass er im Gegensatz zu seinem Bruder, der die Fitness in Person gewesen war, deshalb nur einen Bürojob beim ASN annehmen konnte. Und sie wusste, dass sich sein Leben an dem Tag auf den Kopf gestellt hatte, an dem ihn die Nachricht erreicht hatte, dass sein großer Bruder auf dem Schlachtfeld versagt hatte.

Aber – und das machte sie langsam wahnsinnig – sie kam einfach nicht dahinter, wie aus diesem gebrechlichen Kerlchen von einem Tag auf den anderen der Terrorist Stepper werden konnte, ein Mann mit der Ausdauer von zehn Rennpferden, der mit seinen Tritten Wände zertrümmern und Hausdächer ohne zu Hilfenahme der Hände erklimmen konnte.

Sie steckte das Foto zurück an seinen Platz und legte die Akte auf die von „True Grey“ zurück. Diese Akte hatte nur den Umfang von einem Blatt. Das einzige, was darauf vermerkt war, waren seine äußeren Merkmale. Auch wenn sie die gesamte Biografie von Lapis Lazuli hatte, von diesem Mann wusste sie nichts. Es gab einfach keine Verbindungen zu einer bekannten Person. Sie hatte keinen Namen, keinen Geburtstag, keine Blutgruppe. Alle Informationen, die sie über ihn gesammelt hatte, waren nicht älter als vier Jahre. Es war, als hätte True Grey vor seinem ersten Auftauchen an der Seite von Stepper gar nicht existiert.

Ginko sprang auf ihren Stuhl und machte sich noch einmal bemerkbar.
„Ja, ja...“ Beiläufig streichelte sie ihm über das dichte, getigerte Fell und schubste ihn auf den Boden zurück. „Sofort, sofort...“
Als sie den Napf des Katers mit Futter füllte, begann ihr Schlüsselanhänger zu blinken. „Feierabend ist für Verlierer“, murmelte sie und nahm das Gespräch an.
Das winzige Bildchen von Mr. Quirrs Gesicht erschien auf der Oberfläche der Kugel.

„Es tut mir Leid, sie zu stören, aber ich habe Neuigkeiten.“
Dass es keine guten Neuigkeiten waren, konnte sie sich fast schon denken.
„Unser Labor hat die Blutprobe vom Turniergrund untersucht. Es ist nicht menschlich.“
„Na dann -“
„Es ist auch kein Pferdeblut. Und kein Drachenblut. Unsere Leute haben die Probe weitergegeben an das innere Postamt, als sie nicht mehr weiter wussten...“
Tinkas Miene verdüsterte sich. Es gab nicht wirklich ein inneres Postamt beim ASN. Es war die verschlüsselte Bezeichnung einer speziellen Abteilung, die über allen anderen Abteilungen stand. Was dort vor sich ging, konnte Tinka mit ihrem gesunden Menschenverstand nur als Geheimniskrämerei bezeichnen.

„.... wir bekamen den Befehl zurück, in der Sache nicht weiter zu forschen und das Blut aus allen Protokollen zu löschen.“
„Spitzenklasse!“, seufzte Tinka verärgert und stellte Ginko den Napf vor die Schnauze.
„Wir sollen weiter ermitteln, wer angegriffen hat und Informationen sammeln, die zur Fassung der Täter führen können.“
„Dann befragt weiterhin die Turnierteilnehmer.“
„Noch eine Sache...“, sagte Mr. Quirr, bevor sie die Verbindung unterbrechen konnte, „Was machen wir mit dem Goblin, dem Halbork und der Frau, die ausgewiesen werden wollten?“
Das war Fall drei, mit dem sie im Moment beschäftigt war. Eigentlich war sie es nicht, sondern diese Ritterinnen, aber sie durfte natürlich wieder hinterher räumen.
„Wir haben sie verhört, oder?“
„Wir haben auch ihren Auftraggeber verhört. Ein sehr ehrenhafter Lord, der sein Glück beim Turnier versuchen wollte und dafür die richtigen Männer gebraucht hat. Ein Strafregister haben sie auch nicht.“
Tinka und Mr. Quirr starrten sich einen Moment lang an. Er wusste ganz genau, dass sie die Sache schnellst möglich begraben wollte... Aber leider war ihr Verantwortungsbewusstsein zu groß.
„Wir können sie nicht festhalten, sonst müssten wir das mit allen Turnierteilnehmern machen. Aber wir werden sie nicht ausreisen lassen. Nicht, bevor wir nicht dem Chef berichtet haben.“

Ginko begann sich zufrieden zu putzen, als er fertig gegessen hatte. Wenigstens einer war jetzt glücklich.
„Und wer soll das machen?“, fragte Mr. Quirr nach einigem Zögern auf die Gefahr hin, dass er es am Ende selbst machen musste.
„Ich hab da schon eine Idee....“, antwortete Tinka und streichelte ihrem Kater über den Kopf. Sie jedenfalls würde NICHT ihren Job riskieren...



Der Phönix auf dem Fensterbrett plusterte sein Gefieder. Die aufgehende Sonne wärmte seine blauen Federn mit ihren ersten Strahlen, aber er wandte keine Sekunde seinen Blick vom Inneren des Zimmers, wo die zwei Gäste der Ritterinnen untergebracht waren. Der eine, Lapis, saß verkehrt herum auf einem Stuhl, die Unterarme auf der Lehne verschränkt und starrte unbeirrt an dem Vogel vorbei hinaus auf den Wald, der an die Burg grenzte. Von ihrem Zimmer aus konnte er ihn bequem überblicken. Der andere, Onyx, schlief seelenruhig wie ein unschuldiges Baby in einem Bett, das an der Wand stand und etwas zu klein für seine bärenhafte Gestalt war. Ein frischer Verband verdeckte die Wunde, die ihm der Bestienritter zwei Tage zuvor zugefügt hatte.

Sie hatten vor einiger Zeit ihre Schicht gewechselt. Im Moment war zwar jede Möglichkeit der Flucht versperrt, aber sie wollten nicht verpassen, falls sich eine ergab. Sie waren schon oft in brenzligen Situationen gewesen, aber noch nie, auf ihrer gesamten Flucht noch nicht, hatte sich Lapis so unfrei wie jetzt gefühlt. Jeden Moment erwartete er, dass die Tür aufging und ein Sonderkommando des ASN davor stand, um sie gefangen zu nehmen. Er sah schon das triumphierende Gesicht der Kommissarin vor sich, der er schon oft, nur um sie zu reizen, auf der Nase herumgetanzt war, bevor ihnen ein weiteres Mal die Flucht gelang. Diesmal würden sie ihn garantiert ins Gefängnis stecken, egal was sein Vater gewillt war zu bezahlen. Das würde er sicher nicht zulassen. Wieder dort zu landen hatte sein Partner einfach nicht verdient.

Vielleicht konnte er es schaffen, die Frauen hier auf der Burg auf seine Seite zu bekommen. Sie schienen zwar mit dem Amt verbündet zu sein, aber wenigstens einige schienen ihm nicht dumm genug für blinde Loyalität zu sein. Mit denen ließ sich vielleicht reden. Oder sie machten es wie immer und nahmen die Beine in die Hand, wenn es brenzlig wurde. Er hatte jetzt nichts mehr mit den Ritterinnen zu schaffen. Sie mussten ihnen einfach in Zukunft nicht mehr über den Weg laufen. Darin hatten sie ja Übung.


„Mach mal Platz, Echsi...“, hörte er Sadiras Stimme auf dem Flur und dann, wie der schuppige Körper der Laufechse am Türholz entlang kratzte, als sie sich erhob. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss um und als er sich vom Stuhl erhob, streckte sie schon den Kopf zur Tür hinein.

„Schon auf?“
Sie war allein. Vielleicht, weil sie dachte, es im Notfall allein mit ihnen aufnehmen zu können.
„Kein Wunder, ihr habt ja auch nur ein Bett. Ich hab dir doch vorgeschlagen, dass du ein weiteres Zimmer kriegen kannst.“
Das hinterlistige Grinsen, das diese Frau immerzu trug, machte Lapis nur misstrauischer.
„Kein Bedarf.“, lehnte er ab.
„Der Große schläft ja noch, aber willst du nicht einen Kaffee und etwas Anständiges zum Frühstücken? Meine Pfannkuchen sind legendär.“, fuhr Sadira vergnügt fort.
„Und bevor du jetzt schon wieder „Kein Bedarf“ antwortest... wir haben abgestimmt. Lika findet euch nett, Nea sagt, wir werden nicht bezahlt, Adarwen hat noch einige Fragen offen und Thalia möchte euch erst noch etwas einheizen. Soll heißen: Wir haben die Behörden nicht verständigt und werden das auch nicht machen, bevor ihr nicht einen gehörigen Vorsprung habt. Für den Vorsprung habe übrigens ich mich eingesetzt.“
Sadira war es ja gewohnt von Leuten mit dem „die hat ja wohl ein Rad ab!“ - Blick angesehen zu werden, aber Lapis sah dabei noch aus wie ein getretener Hund.... es war nicht sehr schön
„Und wieso?“, fragte er nach einem weiteren Blick zum Fenster, das noch immer von Churel versperrt war.
„Geschichten werden nicht im Gefängnis geschrieben.“, antwortete sie(und wenn doch, kommt nur Quark raus. Weiß man spätestens seit seinem Krampf. Anm. d. Aut.).
„Komm mir nicht mit diesem Gesülze...“, murrte Lapis und verschwand im Bad.
„Okay, dann eben nicht!“, antwortete Sadira durch die Tür und wartete auf dem Gang.
„Du hast noch nie die Welt gewechselt, oder?“, fragte sie, als er frisch und sauber herauskam.
Er schüttelte kaum merklich den Kopf. Er hatte keine Lust auf diese Unterhaltung, aber das brachte Sadira nicht davon ab, weiter zu reden.
„Dann kannst du auch nicht wissen, wie Likas Navigationsscheibe funktioniert. Ihr seid nur aus einem Grund mit transportiert worden...“
„...weil wir zufällig in Reichweite standen.“, beendete er entnervt den Satz.

„Ganz sicher nicht.“, seufzte Sadira und schüttelte den Kopf.
„Das wäre doch eine ziemlich unsichere Art des Reisens, findest du nicht? Nein. So funktioniert das nicht. Stell dir mal vor, die ganzen Insekten, die um euch herum gekrabbelt sind, die wären ja dann auch auf einmal in der anderen Welt. Das gäbe ein ziemliches Ungleichgewicht. Was meinst du, weshalb in Australien Einfuhrverbot für fremde Tierarten besteht! Und Thalias Drache war ja auch dabei, ist der vielleicht mitge -“
„Ja, ja, ich hab's ja verstanden!“, durchschnitt Lapis ungeduldig Sadiras Redeschwall.

„Und hast du auch kapiert, weshalb der Braunbär und du mit auf die Reise durftet?“ Sadira grinste schon wieder so schelmisch.... es machte ihn wahnsinnig. Am liebsten hätte er nach ihr getreten, beherrschte sich aber, weil er erstens nicht ausgeschlafen und zweitens, bereits daran gescheitert war.

„Naaaa?“
„Nein, hab ich nicht und es ist mir ehrlich gesagt auch völlig... ganz und gar egal! Der kleine Ausflug ist vorbei, das Thema ist abgehakt. Ich würde jetzt gerne -“

„Weil ihr mitkommen solltet. Deswegen.“, antwortete Sadira eiskalt und sah Lapis tot ernst ins Gesicht. Er starrte zurück, immer noch etwas sauer. Die Frau hatte doch einen Hirnschaden.
„Okay.“, antwortete er schließlich, in der Hoffnung sie ruhig zu stellen. Ihre Antwort widersprach aber derart seiner Logik, dass er doch zu einer Gegenfrage gedrängt wurde.
„Und wer hat das bestimmt, dass wir mitkommen sollten? Gott? Das Schicksal?“ Sein Tonfall ließ vermuten, dass er weder das eine noch das andere annehmen würde.

„Höchstwahrscheinlich wie Welt selbst. Ich kann es nicht richtig beantworten, weil ich ehrlich gesagt k e i n W o r t verstehe, wenn Grischmo zu diesem Thema den Mund auf macht, aber aus eigener Erfahrung kann ich sagen, das funktioniert jedes Mal so. Zum Beispiel auch, als Lika und ich in diese Welt gekommen sind. Ursprünglich wollten fünf hier her. Es haben aber nur zwei gepasst. Und einer ist mitgeschleppt worden, obwohl er das gar nicht wollte.“
Lapis betrachtete den Läufer zu seinen Füßen und dachte angestrengt darüber nach, ob das, was Sadira ihm die ganze Zeit erzählte, in irgendeinem Teilaspekt der Wahrheit entsprach. Dieser Prozess würde sich noch eine gute Zeit lang fortsetzen.
„Du musst mir nicht glauben, kannst eh nichts dagegen machen, dass du jetzt mit drin hängst...“ Sie klopfte ihm ermunternd auf die Schulter. Lapis wischte ihre Hand weg.
„Aber da wir jetzt in einem Boot sitzen, würde ich schon gern wissen, was ihr angestellt habt. Ihr seid zwei der vom ASN meist-gesuchtesten Straftäter, aber der Verein hat immer noch kein Kopfgeld auf euch angesetzt. Wieso nicht?“
Lapis Mundwinkel zuckten, aber er schwieg eisern.
„Oder warte mit deiner Antwort, bis wir alle beisammen sitzen...“, begnügte sich Sadira und stoppte ihre Schritte. Der Kaffeeduft ließ schon seit kurzer Zeit vermuten, dass sie angekommen waren. Sadira griff nach der Klinke und öffnete die Tür zum Atrium.

Die Ritterinnen hatten beschlossen, da es ausnahmsweise ein freundlicher Tag mit sonnigem Wetter zu werden schien, das Frühstück nach draußen zu verfrachten. Und weil diesmal kein Reitertross zu füttern war, war die Schlepperei auch um einiges leichter ausgefallen. Alle Ritterinnen außer Sadira und Grischmo waren schon anwesend und Thalia verteilte Pfannkuchen auf die Teller. Als sie Lapis den Gartenpfad heraufkommen sah, gefror ihr Lächeln. Er sah nicht gerade freundlich zurück.
„Ah, da seid ihr ja.“, begrüßte sie Lika von ihrem Platz am einen Ende des Tisches und sah von einem großen Block auf, auf dem sie gerade noch herumgeschrieben hatte.
„MONSTER!“
Das war Aicyn. Er versteckte sich hinter Thalia und zeigte mit dem Finger direkt auf den Neuankömmling. Lapis war etwas überrascht, diesen Kerl noch einmal wieder zu sehen.
„Was denn, noch nicht zu Staub zerfallen?“
Lapis behielt die Ruhe und ging weiter direkt auf den Tisch zu. Das unaufhaltsame Näherkommen beunruhigte den Zentauren.
„DU sollst zu Staub zerfallen! Los Thalia, bewirf ihn mit einem Feuerball!“
Thalia stellte unsanft den Pfannkuchenteller ab.
„Mach es doch selbst!“, motzte sie ihn an und schüttelte seine Hand von ihrer Schulter. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl, so dass Aicyn seine Deckung aufgeben musste. Unruhig lief er jetzt hinter der Tafel hin und her und fixierte den Eindringling mit seinem Blick.
„Wieso darf der eigentlich hier sein, der Tierquäler?!“ Aicyns gekränkter Blick konnte leider bei keiner Ritterin Mitleid auslösen, da alle auf ihren Teller oder woanders hin sahen außer Sadira und die war Hundeblick-resistent. Nur Grischmo, der mit dem Rücken zum Gartenpfad saß, wandte sich jetzt um, um Lapis vorsichtig zu mustern.
„Seit wann fallen Zombies unter das Tierschutzgesetz?“, konterte der jetzt und setzte ein schiefes Grinsen auf. Okay, Grischmo hatte Angst. Er sah auf den leeren Platz und betete, dass der fremde Mann sich da nicht hinsetzen würde. Lieber da auf den freien Stuhl am Ende der Tafel.... aber Murphys Gesetz war gegen ihn. Als Lapis den Stuhl zurück schob und sich breitbeinig hinsetzte, rückte der Shandrane ein gutes Stück Richtung Lika und bewegte seinen Teller ins äußerste Eck des Tisches.

„Keine Sorge, Aicyn, ich habe dich schon gerächt...“, sagte Sadira, die sich jetzt Lika gegenüber niederließ und sich von Nea die restlichen Pfannkuchen geben ließ.

„Das hast du?“, fragte der Zentaur mit hoffnungsvoller Mine und stellte sich hinter ihrem Stuhl in Position.
„Jaa, Lapis ist jetzt Mitglied im Wege für Tierwesen (WFT).“
Allgemeines Prusten.
Da wusste Aicyn, dass alle mal wieder gegen ihn waren und trottete frustriert zum Gartenteich. Andere Leute etwas essen sehen machte ihn so wieso nur depressiv. Da sah er sich lieber die Goldfische an, die hatten etwas Beruhigendes.
„Geht es Onyx nicht gut?“, erkundigte sich Lika und stellte den Block auf einer Stellwand ab. Sie selbst hatte sich von dem Sturz gut erholt und machte sich etwas Sorgen, nachdem Adarwen ihr erzählt hatte, dass er sie in seinem verletzten Zustand herumgetragen hatte, während sie ohnmächtig gewesen war.
„Er schläft noch.“, antwortete Lapis, der jetzt auch einen Pfannkuchen auf den Teller bekam.
„Na gut, ist wohl besser so. Dann musst du ihm nachher eben alles erzählen.“
Lapis glaubte zwar nicht, dass ihn irgendetwas des hier Gesagten interessieren würde, aber so ein Hausfrauenfrühstück hatte auch etwas für sich. Also nickte er brav.
„Okay Leute, dann erzähle ich mal, was Adarwen und mir gestern passiert ist.“
„Und danach gibt es Geschenke!“, ergänzte Sadira und stellte Andrés Korb vor sich auf den Tisch, direkt vor Neas Nase.
Die Diebin biss in ihren Pfannkuchen und ließ sich nichts von ihrer Neugier anmerken.
„Zuerst einmal soll ich allen Grüße von Calla ausrichten.“

Nach allgemeinem Gemurmel und Empörung schaffte es Lika, mit der Erklärung fortzufahren.
Die anderen erfuhren vom Ursprungsland der Ritterinnen, von der Prüfung, die einen zu den ersten Ritterinnen schickte, um ihr Ende mitzuerleben und von der Bedrohung, der das Königreich ausgesetzt war. Dabei veranschaulichte sie ihre Erklärungen durch die Zeichnungen, die sie vorher auf ihrem Zeichenblock gemacht hatte.
„Während ich die Geschehnisse nur bis zum Verrat der Tosaren mitbekommen habe, war Adarwen draußen beim Überfall des feindlichen Lagers. Ihre Ritterin wurde von den Angreifern, mit denen sie eigentlich verbündet waren, heimlich verraten. Wer diese Angreifer waren, ist schwer zu sagen, da sie anscheinend bis zum Tod von Mesa keine feste Gestalt hatten. Laut Callas Aussagen konnten die Angreifer in das Schloss eindringen und die Schlachtenmeisterin – ihre Ritterin – konnte sie so lange aufhalten, bis die Evakuierung abgeschlossen war. Danach fehlen uns die Informationen, was mit den anderen passiert ist. Jetzt allerdings dazu, was danach passiert ist und wieso diese Burg so wichtig war.

Artis' Feste, wie ich sie genannt habe, besitzt ein Tor in diese Welt. Durch dieses Tor wurden die Menschen damals evakuiert und dieses Tor wurde danach versiegelt, damit diese Welt sicher ist. So gelang Callas Volk hier her. Anscheinend überlebte der König den Angriff und hat die Geschehnisse in einem Buch festgehalten“, das Lika jetzt auf den Tisch legte, „ aber keiner kann es lesen, da es wohl eine heilige Schrift ist, die nur einigen wenigen beigebracht wurde. Nur einige Passagen sind in der Schrift des Volkes geschrieben, die sich aber auf die Gegenwart beziehen. Und zwar beschließt die Königin, dass das normale Volk in der neuen Welt Fuß fassen soll, da sie nie wieder zurückkehren werden. Der Heeresstamm und die königliche Familie soll aber weiterhin zu Pferd umher ziehen und ihre Lebensweise bewahren. So viel dazu.“

Wie Lapis vermutet hatte, hatte das alles recht wenig Bedeutung für ihn, obwohl es eine ganz spannende Geschichte war, bei der er gerne zuhörte, während er seinen Kaffee schlürfte.


„Das scheint mir ja jetzt alles Sinn zu machen...“, meldete sich Thalia, „... aber wie kam Calla dann an diese Waffen und wieso hat sie sie uns erst angedreht und wollte uns dann umbringen?!“ Die anderen Ritterinnen nickten zustimmend.

„Dummheit.“, sagte Lika schlicht und griff nach ihrer Tasse, um erst einmal einen Schluck zu trinken. Zum Glück hatte sie aber auch noch eine richtige Erklärung parat.

„Beim Tod einer Ritterin kehrt die Waffe in versiegelter Form zum rostigen Tauchsieder zurück und bleibt so, bis eine neue Ritterin auftaucht. Neue Ritterinnen werden dadurch bestimmt, dass die Waffe von sich aus merkt, wer würdig ist, sie zu tragen. Das Reitervolk ist nun ziemlich lange herumgezogen, ohne dass das der Fall war. Dann wurde Calla geboren. Sie konnte dragon ax entsiegeln und wurde neugierig. Sie wollte wissen, ob noch jemand sonst zu ihrer Lebenszeit auftauchen würde, der eine der Waffen benutzen könnte. Schließlich hatte ihre Familie durch den ersten Erfolg Hoffnung bekommen, dass sie vielleicht zu Artis' Feste zurückkehren konnten. Deshalb suchte Calla eine Hellseherin auf...“

„... Ich will es GAR NICHT wissen...“, murmelte Thalia verstimmt.

„Genau, sie ging zu Karmesin. Die offenbarte ihr eine Menge. Einerseits, wer ihre neuen Gefährtinnen sein sollten. Außerdem, wo sie sie finden würde. Sie sagte aber auch, dass dadurch eine neue Bedrohung auf ihr Volk und ihr Land zu kommen würde.“
Wie schön, dachte Lapis, dass diese dumme Kuh von Calla ihnen das anfangs vorenthalten hatte. Auch als sie es Lika erklärt hatte, waren sie ausgesperrt worden.
„Und jetzt fängt das Durcheinander an...“, seufzte Adarwen.
„Ja, jetzt wird es kompliziert.“, nickte Lika und lächelte entschuldigend.

„Denn jetzt gingen Callas Meinung und die ihres Onkels auseinander. Während er der Meinung war, dass sie ihr Schicksal annehmen sollten, wollte Calla den Orakelspruch benutzen, um ihre Zukunft abzuwenden. Da sie wusste, dass schon einmal eine Verräterin eine Ritterinnenwaffe getragen hatte, traute sie uns nicht. Deshalb wollte sie uns so wenig wie möglich einweihen und einfach aus dem Weg haben. Sie brauchte uns allerdings, um die Waffen zu entsiegeln, damit sie sie jemand aus ihrem Volk geben konnte. Als sie sich allerdings für unsere Ankunft vorbereitete, schaltete sich noch jemand ein.“
Alle schauten Richtung Teich, wo Aicyn da lag, döste und nicht zuhörte.
„Das ASN.“
„War ja klar...“, murmelte Nea, die dem Amt zum Schutz für Normalsterbliche am meisten Misstrauen entgegen brachte. Sie wurde ein weiteres Mal bestätigt.
Lika fuhr unbeirrt fort.
„Sie wollten Atis' Reiterschar für einen Krieg vor vier Jahren rekrutieren... wie hatte Calla den nochmal genannt...“
Adarwen wollte schon den Mund aufmachen, um zu antworten, als Lapis bereits „Troll-Hexer-Aufstand.“, antwortete.
„Stimmt, ich erinnere mich...“, klinkte sich Thalia ins Gespräch ein, „Das war dieser Zipfel-Aufstand, den das ASN ordentlich unterschätzte und bei der Bekämpfung ziemlich auf die Nase fiel.“
„Zipfelaufstand“ war der Name, der scherzhaft Unruhen gegeben wurde, die aufgrund eines Hexenmeisters – der sich für zu mächtig hielt, als unter dem ASN zu leben – auftraten. Dieser versammelte sich meistens eine Anhängerschar und versuchte sein Glück. Bis jetzt vergebens. Der Name war von den spitzen Hüten der Hexenmeister abgeleitet.

„Ziemlich.“, warf Lapis ein.
„Danke für das Interesse, aber ich bin noch nicht fertig.“, unterband Lika streng die Seitenunterhaltung.
„Da sich Atis' gegen den Kriegseinsatz entschied, befand das ASN, dass es in diesem Fall zu gefährlich wäre, ihnen den Tauchsieder zu überlassen. Er wurde konfisziert und das ASN rückte ihn auch nach dem Krieg nicht wieder heraus. Auf mysteriöse Weise gelangte er dann vor kurzem zu den Bestienrittern, die Aicyn losschickten. Und so schließt sich der Kreis.“

Lika setzte sich wieder auf ihren Platz, denn alle Bilder auf dem Block waren erläutert. Sie schnappte sich die Marmelade, um jetzt endlich auch ihren Pfannkuchen zu verputzen.

„Und wieso war er also auf dem Weg hier her?“, wollte Nea wissen, „wollten die das Teil wirklich schmuggeln?“
„Das wissen wir nicht sicher.“, machte jetzt Adarwen weiter, „aber Calla vermutet, dass sie wussten, dass HIER das Portal zur anderen Welt ist.“

Stille.
„Ach stimmt ja, fast vergessen: Irgendwo in unserem Keller ist das Tor. Ich vermute weiter hinter der Tresortür.“
Weiterhin Stille.
„Calla wollte verhindern, dass es den Bestienrittern möglicherweise gelingen konnte, das Tor zu öffnen und schickte deshalb Lapis und – das Edelsteinduo eben, vor, um Aicyn abzufangen. Hat funktioniert.“
Lapis lächelte leicht säuerlich. Wenn er gewusst hätte, dass das ganze so ausgeht, hätte er sich bestimmt nicht auf den Handel eingelassen.
„Dann sind Calla und die beiden eigentlich die Guten?“, fragte Sadira. Diese Wirrungen waren ganz nach ihrem Geschmack.
„Dürfte ich dich noch einmal daran erinnern, wie Calla uns die Hölle heiß gemacht hat?“, widersprach Thalia. Ihr waren Likas Ausführungen noch höchst suspekt.
„Eigentlich wollte sie uns nur aus den Problemen ihres Volkes heraus halten.“
„Obwohl... diese Probleme noch nicht wirklich aufgetaucht sind.“
„Außer, dass Calla den Rest ihres Lebens damit zubringen kann, diesen Eispalast zu verteidigen.“, wechselten Adarwen und Lika ab.
„Das war eine Spezialfähigkeit von dragon ax.“, fügte letztere hinzu, um mögliches Unverständnis zu beseitigen.
„Das heißt, sie ist jetzt auf unsere Hilfe angewiesen, sollte etwas passieren.“, seufzte Adarwen, die eigentlich KEINE LUST hatte, in dieser Angelegenheit zu helfen.
Lange herrschte Schweigen. Jeder musste diese neuen Informationen erst einmal verarbeiten, denn es war klar, dass eine Entscheidung gefällt werden musste. Sie konnten wohl nicht ewig ignorieren, als Torwächterinnen auserwählt worden zu sein.

„Ach ja, Grischmo!“, fiel Lika ein. Grischmo schreckte aus tiefster Grübelei auf.

„Kannst du das Buch der Königin vielleicht übersetzen?“
Sie schob es ihm vor den Teller. Der Shandrane hob den Deckel mit einer Kralle auf. Er starrte nur eine Sekunde auf die Schrift und antwortete sofort:
„Nein!“
„Och Grischmoooo....“, bettelte Lika enttäuscht.“
„Ich KÖNNTE es, wenn ich ein Wörterbuch hätte.“, warf er schnell ein.
„Aber wir brauchen die Übersetzung, um in den versiegelten Bereich der Feste zu kommen!“
„... in dem die Bücher stehen.“, fügte Adarwen hinzu. Da biss sich die Schlange in den Schwanz....
„Wenn dieses Volk schon so lange hier ist, dann gibt es vielleicht noch irgendwo ein Wörterbuch in unserer Welt....“, sagte Sadira.
„Viel Spaß beim Suchen...“, meinte Nea und pickte einen Krümel von ihrem Teller auf.
„Wie wäre es mit dem Archiv des ASN? Das ist die größte Ansammlung von Büchern auf diesem Kontinent.“
Alle schauten zu Lapis und waren verblüfft über seinen konstruktiven Vorschlag.
„....was?“, fragte er irritiert.
„Nichts, das ist eine sehr gute Idee...“, antwortete Lika mit einem guten Haufen Verwunderung in ihrer Stimme.
„Woher weißt du über das Archiv Bescheid?“
„Ich kenne meinen Feind eben!“, gab Lapis trotzig zurück. Er wollte eigentlich gar nicht hilfreich sein, es war ihm nur so rausgerutscht...
„Und dein Feind ist das ASN...?“, fragte Thalia und hob eine Augenbraue.
„Nicht, dass ich es mir ausgesucht hätte...“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, „... aber die haben angefangen!“
„Können wir jetzt ENDLICH zu dem Korb kommen?!“, mischte sich Nea ein, die sich schon seit geraumer Zeit langweilte und zugleich fast vor Ungeduld starb.
Sadira musste grinsen und trommelte mit den Fingerspitzen auf das Weidengewinde. Schließlich lupfte sie das Tuch, mit dem Lebensfrost zugedeckt war.
„Meine Damen: Wir haben geerbt.“ Und jetzt war sie an der Reihe. Wenn Lika den ganzen Morgen bekommen hatte, um ihren Kram zu erzählen, dann würde sie mindestens bis zum Mittage-
„André ist mit einem Kindheitsfreund durchgebrannt und in eine andere Welt abgehauen oder so. Wir dürfen sein Zeug behalten.“
„NEA!“
Das war die Kurzfassung.
„Jetzt zeig schon, was außer dem Klunker dabei ist.“
„Darf ich den Klunker dann haben?“ Grischmo spitzte hoffnungsvoll die Ohren.
„NEIN!“
„Den geben wir am besten zurück. Ich will nicht wegen noch etwas Ziel einer kriminellen Organisation sein...“ Die ganzen schlechten Nachrichten hatten Thalia in eine eher düstere Stimmung versetzt.
Nea räusperte sich schon wieder.
„Erst den Zettel vorlesen!“, sagte Sadira und zog ihn auch schon aus ihrer Hosentasche, wo er etwas zerknittert worden war. Sie faltete ihn mit aller Seelenruhe auseinander und beobachtete die Diebin dabei aus den Augenwinkeln. Sie konnte es sich gut vorstellen, dass sie ihn ihr mitten im Vortragen aus der Hand riss, um den Rest der Nachricht dann in doppelter Geschwindigkeit runter zu rattern.


Liebe Ritterinnen, Herr Grischmo.

Ich hoffe, Sie sind noch alle wohl auf und haben den Angriff gut überstanden. Ich hoffe, diese Botschaft erreicht Sie.
Es tut mir Leid, dass ich so überstürzt aufbrechen musste, ohne Nea noch einmal Bescheid zu geben. Bitte glauben Sie mir, wenn ich Ihnen versichere, dass die Zeit und Situation nichts anderes zugelassen haben.
Dass Sie danach nichts mehr von mir hörten, ist eigentlich nicht zu entschuldigen, aber auch risikofreier gewesen. Deshalb erfahren Sie jetzt schriftlich von mir:
Ich habe gekündigt.
Was auch immer mein ehemaliger Chef Ihnen gesagt haben mag: ich bin aus freien Stücken gegangen und ich habe auch nicht vor, wieder zu kommen. Nach mir zu suchen würde keinen Sinn machen, also lassen Sie es, bitte. Ich habe mit Martini eine loyale Vertretung zurückgelassen. Bitte wenden Sie sich bei dringenden Angelegenheiten an ihn, nicht an den Chef, denn der ist im Moment ziemlich unzurechnungsfähig. Ich habe ihm wohl das Genick gebrochen, aber er ist selbst daran Schuld. Das System des ASN wird dadurch jedenfalls nicht zusammenfallen, dafür ist es zu gut geschmiert!
Da jetzt wahrscheinlich harte Zeiten auf Sie zukommen, habe ich Ihnen etwas beiseite gelegt, das Sie hoffentlich unterstützen wird.
Es befindet sich alles in dem nimmervollen Beutel.


Nea schob den schweren Kristall zur Seite und zog ein kleines, leichtes Beutelchen aus ockerfarbener Seide hervor. Es war so leicht, dass sie es mühelos mit einer Hand hochheben und auf ihrem Schoß absetzen konnte. Geschickt pfriemelte sie die Lasche des Deckels aus ihrer Schließe und öffnete die Verpackung von Andrés Erbe.


Mein Steno-Kugelschreiber:

Ihr solltet nur immer genug Papier dabei haben.


Eine Kugel,die magieleeren Raum schafft:

Sie hat einen begrenzten Radius, also müsst ihr in die Nähe des Magieanwenders kommen. Funktioniert leider nicht bei permanenten Zaubern, sondern nur bei solchen, die frisch gewirkt werden. Sie lag lange auf meinem Dachboden, aber ich hoffe, dass sie noch funktioniert. Sie ist immerhin schon sehr, sehr alt, wieso sollte sie gerade jetzt ihren Geist aufgeben? Ich schweife ab...


Trilogie von D. Schuppensänger:

Als Bettlektüre. Ich würde mich geehrt fühlen, wenn diese Bücher einen Platz in Likas Bibliothek fänden.


Knabberspaß Bio-Nagerfutter:

Ihr müsst ihn zweimal füttern: einmal als Vorschuss und das zweite Mal, nachdem er sein „Kunststück“ vollendet hat. Falls ihr Neues braucht, fragt Martini, der weiß, wo man diese Sorte kaufen kann. Und seid so nett und bringt ihm dann ein paar Hundekuchen mit.


Eine Drahtschere:
Ich brauche sie nicht mehr, jetzt, wo ich den Zaun des ASN hinter mir lasse. Aber vielleicht müsst ihr mal wo hindurch, wo man kein Loch bemerken darf.


Der nimmervolle Beutel selbst:

Nie wieder Tüten schleppen!


Das war es eigentlich. Ach ja, macht euch keine Sorge um Ethion, die Studentin, die sich um ihn kümmert, ist sehr zuverlässig. Sie wird ihn behalten, wenn sie merkt, dass ich nicht mehr zurückkomme. Klingt sehr drastisch. Deswegen tut es mir auch Leid, Adarwen, dass ich diesen praktischen Ohrring mitnehmen musste. Vielleicht findet sich ja ein Weg, ihn zurück zu schicken...


Und jetzt ist wohl der Moment für einen letzten Rat fürs Leben gekommen. Also:


Hört nie auf, wirklich NIE, auch wenn es völlig aussichtslos erscheint, nach eurem Glück zu suchen. Und seid dann dazu bereit, wenn es vor eurer Nase auftaucht, sofort alles dafür aufzugeben.


In diesem Sinne, lebt wohl.



P.S.: Meldet ja nicht eure Burg an. Es macht nur Ärger. Verstärkt die Abwehrzauber am besten noch, da ist eine Lücke für die ASN-Suchgeräte.


Der Zettel faltete sich sofort wieder zusammen.

Die Ritterinnen betrachteten die Güter, die Nea vor sich zwischen dem Frühstücksgedeck ausgebreitet hatte.

„Nagerfutter...“, murmelte sie fassungslos.

„Darf ich die Bücher mal sehen?“, fragte Adarwen vom anderen Ende der Tafel. Widerstandslos wurden sie ihr herüber gereicht. Adarwen betrachtete den Titel, schlug die erste Seite auf und war für den Rest des Tages nicht mehr ansprechbar.
„Er wird sich etwas dabei gedacht haben...“, seufzte Thalia und griff nach der Magiebrecherkugel, die zu groß für nur eine Hand war.
„Das hier scheint ja sogar einen Nutzen zu haben...“
„Ja, für MICH.“, antwortete Sadira und nahm sie ihr aus der Hand.
Sie war erstaunt, wie leicht der schillernde Ball war und klopfte dagegen. Es schien sich nicht um Glas zu handeln.

„Ist das etwa Plastik?!“ Sie schüttelte ihn. Die Schlieren auf der Innenseite des Artefaktes begannen sich träge zu bewegen.
„Wie benutzt man das Ding?“
Die Hexe seufzte und weigerte sich eine Antwort zu geben, nachdem ihr das untersuchte Objekt so unhöflich aus der Hand gerissen worden war. Sadira schien gar keine zu erwarten und spielte weiter mit ihrer neuen Errungenschaft herum.
„Was auch immer der gute André damit bezwecken wollte... wir lassen es am besten beisammen, bis wir einen Verwendungszweck gefunden haben.“, schlug Lika vor.

Adarwen sah von ihrer Lektüre auf.
„Außer die Bücher.“, gab sie nach, „Und den Zettel bekommt Adarwen zur Aufbewahrung.“
Wieder ins Lesen vertieft, streckte Adarwen eine Hand aus und nahm den Zettel von Sadira entgegen. Mit einer nicht nachvollziehbaren Handbewegung ließ sie ihn irgendwo an ihrem Körper verschwinden.
„Wir tun alles wieder in den Beutel und legen ihn in den rostigen Besteckkasten.“
Nea begutachtete noch schnell die Drahtschere und ließ dann alles wieder in dem Beutel verschwinden.
„Der ließe sich aber ziemlich gut zum Einklau - ...kaufen benutzen...“, warf sie noch ein, aber keiner reagierte darauf.
„Dann sollten wir jetzt die Aufgaben verteilen...“, fuhr Lika fort und bekam ein bekräftigendes „Muh“ als Antwort von oben. Irritiert schaute sie auf.

„Hat das... hat das Dach gerade gemuht?“

„Nein, das ist unsere neue Wachkuh, jemand sollte nach der Tür schauen.“, sagte Thalia.
„Wer hat denn bitte schön eine Wachkuh -“
„Sadira“
„O....kay.“
„Was denn, es war ein Sonderangebot!“, verteidigte sich die Kämpferin.


Also machte sich Lika auf den Weg zur Tür. Aicyn nahm sofort ihre Fährte auf, in der Hoffnung bei einer Ritterin allein weiter zu kommen als bei allen zusammen. Und: als Bodyguard natürlich!
„Lapis... sie sollten sich besser aus dem Staub machen.“
Thalia hatte einen Blick auf den Überwachungsspiegel geworfen.
„Tinka Stutenhobel steht vor der Tür.“


Lika ging im Kopf die Möglichkeiten durch, wer ihnen einen Besuch abstatten könnte. Womöglich war es noch Atis selbst, nachdem sich der Tauchsieder aus dem Staub gemacht hatte und zu ihnen zurückgekehrt war. Sie musste grinsen, als sie sich vorstellte, wie dieser Stab sich in den Bus setzte und zu ihnen fuhr, vor Hunden weghoppelte...

Sie fasste sich, bevor sie die Eingangstüre öffnete.

Vor ihr stand eine kompakte Frau mit rot-blonden Haaren, die zu einem Zopf zusammengefasst und hochgeklemmt waren, in Jeansjacke und mit ernstem Gesichtsausdruck.

„Ja, bitte?“, fragte Lika und nahm mit Besorgnis zwei Schränke von Männern in schwarzen Anzügen war, die trotz ihres schattigen Standortes Sonnenbrillen trugen.

„ASN - Kommissarin Tinka Stutenhobel. Ich habe noch einige Dinge wegen des Turniers zu klären... sind sie … auch eine Ritterin?“

„Ja, das bin ich, Frau... Stubenhoden...“
„NUR Tinka, bitte....“, knurrte die Kommissarin und reckte ihren Hals um an Lika vorbei ins Innere der Eingangshalle zu schauen.

„Sind ihre verschwundenen Kolleginnen inzwischen wieder aufgetaucht?“

„Ich schätze, ich BIN eine solche „verschwundene Kollegin“...“, entgegnete Lika und schloss die Tür wieder einige Zentimeter. Woher wusste die Frau das überhaupt?!

„Das freut mich zu hören. Ein Grund mehr, sich mit ihnen zu unterhalten. Haben sie einen Moment-“

„ICH habe einen Moment Zeit!“, platzte Aicyn heraus und schob sich unter Likas Arm, mit dem sie den Weg nach Innen versperrte, hindurch, um Tinka anzufallen.
„Bitte nehmen sie mich fe– ungh...“

Sein Versuch scheiterte daran, dass Tinka ihren Anti-Aggressionsgriff für Zentauren anwendete und Lika ihm gleichzeitig hinten am Schweif zog, um ihn zurückzuhalten.
„Was... ist das?“, fragte die Kommissarin und winkte gleichzeitig Mr. Quirr und Mr. Lancer ab, dass sie alles im Griff hatte.
„Eine Plage.... leider sind unsere Rattenfallen nicht groß genug...“
„Wie auch immer... wenn ich einen Moment hineinkommen dürfte... Thalia hat mich neulich so nett eingeladen...“
Hatte sie zwar nicht, aber die Überzeugungsarbeit war damit geleistet. Lika stellte sich vor und ließ sie nach einem Händeschütteln eintreten.
„Wissen sie eigentlich, dass dieser riesige Brocken von Drachen in ihrem Garten gar nicht glücklich aussieht?“, musste Tinka auf dem Weg durch die Burg doch noch loswerden.
„Das liegt wahrscheinlich daran, dass seine Besitzerin in einer anderen Welt festsitzt.“, antwortete Lika kalt. War diese Beamtin vorher um die ganze Burg geschlichen? Diese Wachkuh war nutzlos. Sadira sollte sie sofort zurückgeben. Aber noch etwas anderes machte ihr Sorgen... wenn diese Frau wirklich von der Polizei war, hatten sie ein Problem, wenn Onyx und Lapis entdeckt wurden. Deshalb schickte sie Aicyn schon einmal vor, damit er den anderen mitteilte, dass sie Besuch von einer Kommissarin bekamen und schon einmal neuen Kaffee aufsetzen sollten, machte einen großen Bogen um das Zimmer, in dem Onyx schlief und gab Tinka stattdessen eine Privatführung durch den östlichen Flügel der Behausung. Währenddessen wurde sie allerdings schon zur Schattenfuchsjagd ausgequetscht und was dort passiert war, so dass sie sich etwas aus den Fingern saugen musste. Um Zeit zu schinden beschrieb sie die Angreifer ganz genau, die Feuerschildkröten und den Mann mit der widerlichen Lache und der Tierklaue und war froh, als die Atriumstür in Sicht kam.
„Und das also, FRAU KOMMISSARIN, ist unser Atrium.“
„Nur Tinka reicht.“
Likas Herzschlag begann sich zu normalisieren, als sie das Atrium betraten und kein Lapis in Sicht war.


Der hatte einen Moment zuvor wieder das Zimmer betreten, in dem Onyx geschlafen hatte. Sein Partner stand am offenen Fenster, kraulte Churel unterm Kinn und sah nach draußen auf den Wald.
„Wow, du hast den Phönix rumgekriegt!“
Onyx drehte sich gemächlich um, sein Gesicht ließ wie immer keine Gefühlsregung erahnen.
„Wo warst du?“ Seine Frage klang wie die eines Kindes, das vor der Schule auf seine Mutter wartete um abgeholt zu werden.
„Ich habe nur etwas gefrühstückt... die haben darauf bestanden. Und ich habe dir ein Brötchen mitgebracht.“, lächelnd hielt Lapis eine Papiertüte mit seiner Trophäe hoch.
„Danke.“ Onyx brauchte nichts zu essen, aber diesmal stellte es eher einen Akt der Versöhnung da, als er nach der Tüte griff.
„Und ich habe eine schlechte Nachricht: Die Schnepfe vom ASN ist gerade hier angekommen. Aber da das Fenster jetzt frei ist, schlage ich vor, wir machen uns einfach aus dem Staub und vergessen die Angelegenheit.“
Churel stellte empört die Kopffedern auf. Aber Onyx drehte sich wieder dem Fenster zu und rührte sich nicht weiter.
„Ich mag den Wald hier.“

„Na schön, dann können wir ja gleich hindurchgehen.....“
„Nein.“

Oh je. Wenn Onyx einmal widersprach, war er meistens mit menschlicher Logik nicht zu überzeugen.
„Ich will noch hier bleiben. Ist Tinka gekommen, um uns einzufangen?“
Lapis mochte es nicht, wenn sein Partner völlig grundlos ihren Feind duzte...
„Ich bin mir nicht sicher. Eine Ritterin hat gesagt Nein, aber darauf würde ich nicht vertrauen.“
Jetzt packte Onyx in aller Seelenruhe sein Brötchen aus.
„Wenn sie herkommt, laufen wir weg.“
„Vorher nicht?“
„Vorher nicht.“
Lapis seufzte.
„Wenn du meinst...“
Er trat neben das Fenster und wurde von Churel angefaucht. Haustiere waren nervig. Es dauerte eine Zeit, in der sie schweigend auf den ruhigen Wald hinaus schauten, bis Lapis schließlich doch etwas von dem Frühstück berichtete.

Nach einer schrecklichen Zeit der Ungewissheit für Lapis klopfte endlich jemand an die Tür.
„Die Kommissarin ist wieder gegangen... ich bin's Adarwen.“
„Die Tür ist offen...“, antwortete Lapis genervt. Im Ernst: Warum tat diese Frau, als ob sie irgendetwas in einer fremden Burg zu bestimmen hatten? Konnte sie nicht einfach rein kommen und sie wie normale Eindringlinge behandeln? Bloß, weil sie anscheinend beide eine Abscheu gegen Calla hatten und von Natur aus misstrauisch waren, machte sie das nicht gleich zu besten Freunden...

„Oh, scheinbar mag Churel dich.“, war das erste, was der Spionin einfiel, als sie das Zimmer betrat.
„Ja, scheinbar.“, antwortete Lapis unwirsch für Onyx und wollte damit das Thema beenden.
„Wie auch immer, ihr kamt gar nicht zur Sprache....“, kam Adarwen gleich zur Sache, „außer... Die Kommissarin sagte, dass das gefundene Blut an der Stelle, an der wir verschwunden sind, nicht zu einem Menschen gehörte. Könnt ihr da vielleicht zur Aufklärung beisteuern?“
„Vielleicht ist der Drache ja auf ein Eichhörnchen getreten, was weiß ich.“
Lapis antwortete in so harschem Ton, dass Adarwen natürlich misstrauisch wurde.
„Also habt ihr keine Idee?“
„Nein.“, sagte Lapis prompt.
„Onyx, du vielleicht?“, wandte sich Adarwen jetzt zum ersten Mal direkt an den Großen, der für gewöhnlich immer schwieg. Der wandte seinen fragenden Blick von Lapis jetzt ihr zu und starrte sie an.
„Du bist doch verletzt worden.“
Er nickte.
„Du musst ihr nicht antworten.“, fiel Lapis in ihr Verhör ein, „Wieso sagst du uns nicht einfach, was für Blut das dann war, das ASN wird es jawohl untersucht haben. Ich kenne den Laden doch.“
„Wenn die Untersuchung ein Ergebnis gebracht hätte, würde ich euch damit jetzt gar nicht behelligen.“, antwortete Adarwen freundlich und löste Verwirrung aus. Na wunderbar, dachte sie, denn sie hatte gehofft, neue Informationen über die beiden zu bekommen, um sie ihrer Kartei hinzuzufügen. Das schien jedoch schwerer zu sein, als erwartet.
Sie griff nach der Türklinke, um das Zimmer wieder zu verlassen.
„Ihr könnt noch etwas bleiben, hat Lika gesagt. Aber lasst euch besser nicht mit Churel erwischen, sonst wird Thalia noch sauerer....“
Sie war schon halb aus dem Zimmer, da fiel ihr noch etwas ein.
„Ach ja... du kennst dich mit dem Zentralarchiv des ASN aus?“
„.... wieso?“, hakte Lapis vorsichtig nach.
„Ich wollte da einsteigen. Lust, mitzukommen?“

Er sah sie nur an und schwieg. Entweder war diese Frau verrückt oder genial. Er hatte noch nicht allzu viel von ihrem Können gesehen. Ritterinnen – Waffe hin oder her, bei ihrer kleinen Konfrontation hatte sie ihm nicht wirklich etwas entgegen zu setzen gehabt. Dachte sie, er würde sie schnurstracks in das Archiv bringen können? Vielleicht noch auf Händen getragen? „Ich weiß nicht, ob du irgendeine Vorstellung vom Zentralarchiv hast... und überhaupt, wieso stellst du nicht einfach einen Antrag für das Buch, das du suchst?“ Er verschränkte die Arme vor der Brust und wollte sich erst einmal anhören, was sie noch zu sagen hatte. Vielleicht würde sie ja ein überzeugendes Argument vorweisen können. Denn wenn er wirklich in das Archiv gelangen könnte, dann wäre das durchaus zu seinem Gefallen, ach was, das wäre phänomenal! Dann würde er die Akten des Troll-Hexer Aufstands einsehen und endlich die schmutzige Vorgehensweise des ASN an den Tag legen.

„Ich arbeite lieber nicht mit einem riesigen Haufen Bürokraten zusammen, die jeden Schritt dokumentieren, den ich mache. Keiner von denen muss wissen, dass ich mich zufällig für die ausgestorbene Sakralsprache eines alten Reitervolkes interessiere.“, war ihre Begründung.

„Du weißt ja gar nicht, wie wahr deine Worte sind...“, sagte Lapis, in ihr bis jetzt unvertrautem Tonfall, „Ich habe mal für die gearbeitet. Bis ich gemerkt habe, dass sie alles, was sie tun nur tun, um ihre Macht aufrecht zu erhalten.“

Sein Blick, der sie jetzt traf war tief und ließ ihr Herz einen kleinen Sprung machen. Es war der Blick eines Mannes, dessen Leben völlig auf den Kopf gestellt wurde, der all seine Prinzipien als falsch gestempelt hatte, um neu anzufangen. Sie sah schnell woanders hin. Churel schien sie prüfend zu beobachten.

„Also, wie sieht es nun aus? Mit der neuen Fähigkeit, die ich seit meiner Prüfung benutzen kann, sollte es uns recht leicht fallen, unbemerkt hinein- und wieder hinauszukommen. Ich brauche dich nur zur Orientierung und wegen möglicher Fallen.“
„Zufälligerweise wollte ich auch nach einigen Dingen im Archiv suchen... wir sind dabei.“
Er hielt seine Hand hin und sie schlug ein.
Adarwen wusste nicht warum, aber ihr fiel ein Stein vom Herzen.
„Wenn du fertig bist, Thalia macht sich gleich auf den Weg. Da fliegen wir mit. Onyx kann bei Lika bleiben.“
Adarwen führte sie das Treppenhaus hinunter in den Hof. Lapis blieb schlagartig stehen.
„Was soll das, Onyx kann hier bleiben?! Wir trennen uns nicht!“

Adarwen, die sich gerade ein Paar Lederhandschuhe anzog, seufzte innerlich genervt. Sie hatte eigentlich gehofft, ohne Wiederworte mit ihm zusammenarbeiten zu können, jetzt, wo sie sich geeinigt hatten.

„Hör zu: Onyx ist NICHT gerade unauffällig. Die Chance, dass wir mit ihm entdeckt werden, ist doppelt so hoch wie wenn wir nur zu zweit sind. Nimm es nicht, persönlich, Großer.“
Onyx zuckte mit den Schultern.
„Dann will ich dir mal sagen, wieso wir die ganze Zeit vor dem ASN unentdeckt bleiben konnten. Wegen – ihm!“
Lapis zeigte mit beiden Händen auf seinen Freund.
„Der Mann hat ein Gespür für aufkommenden Ärger. Außerdem kommen wir mit ihm ohne Probleme an allen Spürhunden vorbei. UND: Wir trennen uns nicht!“
Er verschränkte die Arme vor der Brust und wartete darauf, dass die Ritterin ihm klein bei gab.
„Muss mal durch!“
Von weiter oben kam Nea die Treppe herunter, in warmem Wintermantel, komplett mit Ohrenschützern, Handschuhen und Wollmütze. Sie wurde von Sadira begleitet, die ähnlich warm angezogen war. Die Diebin schwang sich geschickt neben Onyx über das Treppengeländer an ihm vorbei, bevor er reagieren konnte.
„Hier, der Beutel, 'darwinelchen.“ Nea ließ Andrés nimmervollen Beutel der Spionin in die Hände gleiten.
„Geht ihr schon los?“, fragte sie überrascht.
„Ja. Damit Calla uns nicht zum Kaffee einladen kann.“, grinste Sadira, während sie sich zwischen Lapis und Onyx durch schob. Die beiden wollten so schnell wie möglich ihre Ritterinnenprüfung absolvieren. Nur Thalia, deren letzte Skepsis noch nicht verflogen war, wollte zuerst Atis aufsuchen, um ihn nach seiner Version der Geschichte zu befragen. Bei dieser Gelegenheit wollte sie gleich Adarwen in der Nähe des ASN absetzen. Nur Lika würde zu Hause bleiben und die Burg bewachen.
„Findet ihr das nicht etwas riskant,die Burg so angreifbar zurück zu lassen? Vielleicht irre ich mich ja, aber bei unserer letzter Begegnung mit einem Bestienritter war eure Freundin nicht sehr hilfreich.“, mischte sich Lapis in die Angelegenheit ein. Adarwen hatte es aufgegeben, die beiden trennen zu wollen und sie überquerten jetzt den Platz zu den Ställen.
„Die Bestienritter werden es gar nicht erst zur Tür schaffen. Ich habe die Sicherheitslücken ausgebessert. Tinka war so nett, mich auf mögliche Mängel aufmerksam zu machen.“
Jetzt stieß auch Thalia zu ihnen, die Lapis mit ihren eisblauen Augen abschätzte.
Der schätzte zurück.
„Und du glaubst im Ernst, die hat dir alles gesagt? Dann haben die ja keinen Vorteil euch gegenüber mehr.“
„Es ist ja auch nicht das ASN, das uns angreift. Wir sind ja keine Terroristen – so wie ihr.“, konterte die Hexe.
„Und hast du schon eine Ahnung, wo du suchen wirst?“, fragte Adarwen, als sie Condor ins Freie ließen, der so nett sein würde, Lapis und Onyx zu tragen. Misstrauisch beschnupperte er die Männer, schien aber schnell seine Scheu vor Onyx verloren zu haben.
„Ich habe von Tinka die Koordinaten von Atis' letztem Aufenthalt bekommen. Als reichsfremde Bevölkerungsgruppe müssen sie ihre Bewegungen kommentieren. Von da aus muss ich mich auf Arco und Churel verlassen, aber ich bin zuversichtlich.“
Ihr Drache unterhielt sich schon angeregt mit dem blauen Phönix, man konnte nur erahnen, worüber sie sich austauschten.
„Wir werden von der Küste aus starten. So gehen wir nicht die Gefahr ein, Tinka noch einmal über den Weg zu laufen.“



Horch, was kommt vom Walde her


Während sich die Gruppe also nach Südosten zur Steilküste und zum Meer aufmachte, waren die Kommissarin und ihre beiden Kollegen bereits weit in den Wald der entgegengesetzten Richtung vorgedrungen. Während Tinka in der Mitte den Korb mit Lebensfrost darin trug, untersuchten die Männer an ihrer Seite die Umgebung genau.
Mr. Quirr hielt ein Gerät in der Hand das aussah wie ein kleines hölzernes Wiesel. Es hielt eine gläserne Murmel zwischen den Krallen und während seine Augäpfel in den Höhlen nach rechts und links rollten, klapperte sein Kiefer ununterbrochen.
„Die Magiedichte in diesem Waldstück ist unglaublich. Es wäre fast unmöglich einen ASN Chip hier zu orten. Der Störwert dürfte fast so hoch sein wie im Wald von Nordspitzen! Ich war einmal dort, auf dem Weg zum Hochsicherheitstrakt und wäre fast verloren gewesen in diesem düsteren Irrgarten.“

„Deshalb verlasse ich mich hierauf.“, antwortete Mr. Lancer mit überlegener Miene und zeigte den einfachen Kompass her, den er in der Hand hielt.

„Dann sei mal froh, dass die Ritterinnen hier keine Magneten aufgestellt haben.“, entgegnete Mr. Quirr, „Aber wahrscheinlich sind sie noch nicht auf die Idee dazu gekommen, weil das eine legale Methode wäre. Wahrscheinlich haben sie noch nicht mal einen leisesten Schimmer davon, dass der Magiedichte-Wert hier die erlaubte Grenze um Meilen übersteigt. Am liebsten würde ich ein paar Förster herschicken, die durch ein paar gefällte Bäume den Wert wieder ins Lot bringen.“

„Das werden sie schön lassen. Ich werde nämlich einen Naturdenkmal – Antrag stellen.“, schaltete sich Tinka in das Gespräch ein. Sie hatte sich schon zu viele gute Beziehungen durch dämliche ASN Vorschriften verbaut und wollte diesmal die verwinkelte Straße der geduldeten Ausnahmen im Regelwerk nutzen, um den Ritterinnen etwas Freiheit zu verschaffen.
„Da geht die Beförderung dahin...“, seufzte Mr. Quirr, „Aber bevor wir zum Transport – Punkt kommen, könnten wir wenigstens einen Nebelwandtest machen?“
„Meinetwegen.“, sagte Tinka, „ aber trödelt nicht rum. Ich will das Teil hier vor Mittag noch los werden.“
Mr. Quirr stellte das Ortungswiesel auf die Ident.-Nummer von Mr. Lancer ein und hob die Hand für ein Okay – Zeichen.
Jetzt entfernte sich Mr. Lancer von ihm, bis er hinter den Bäumen verschwunden war.
„Noch, noch... okay, stopp!“
Das Wiesel hörte auf mit den Zähnen zu klappern und starrte neugierig in die Richtung, in die Mr. Lancer verschwunden war.
„Junge, Junge.... das sind nur knappe 7 Meter Ortung! Kannst wieder kommen!“ Mr. Quirr freute sich richtig über seinen schlechten Wert und notierte ihn eifrig in ein kleines Heft.
Als jedoch kein Knacken der Zweige zu hören war, das Mr. Lancers Rückweg angekündigt hätte, sah er wieder auf. Tinka war beunruhigt. Sie ging ein Paar Meter zurück, um den Blickwinkel zu wechseln und zwischen die Bäume zu schauen.
„Mr. Lancer? Wir haben keine Zeit für dumme Scherze!“
Aber es war kein Scherz.
Erschrocken stieß sie einen Schrei aus und sprang noch einen Meter zurück, als dicht vor ihr ein Angreifer aus der Krone eines Baumes sprang.


Eine mit dichtem Fell bewachsene Kralle grabschte nach dem Korb mit Lebensfrost, den Tinka dicht an ihren Körper gepresst hielt.
Reflexartig riss sie ihre Arme zur Seite, so dass der Mann nichts zu fassen bekam. Er stand gebückt vor ihr, eine gedungene Gestalt in einem roten Einteiler und kicherte in sich hinein Er holte erneut aus und schlug in Tinkas Richtung. Ohne getroffen zu werden, wurde sie von den Füßen gerissen und nach hinten auf den Waldboden geschleudert. Aber den Korb gab sie nicht so einfach her, noch fester umklammerten ihre Hände das Weidengeflecht.
Mr. Quirr kam ihr zu Hilfe und stellte sich vor sie. Der Angreifer schien Respekt vor ihm zu haben und ging einen Schritt rückwärts in Deckung.
„Dumme ASN-Leute. Wirklich dumm. Gebt mir den Stein oder ich nehme euer Leben!“

Tinka rappelte sich wieder auf.
„Davon bin ich nicht beeindruckt. Ich gebe ihnen die Möglichkeit, sich zu ergeben und hier festnehmen zu lassen, ansonsten dürfen sie jetzt mit einem Gegenangriff rechnen.“, antwortete die Kommissarin ruhig. Sie hatte sofort den Angreifer erkannt, denn er war ihr von Lika und Adarwen beschrieben worden. Das war der Brandstifter, der die beiden bereits bei der Schattenfuchsjagd angegriffen hatte. Sie irritierte allerdings, dass er hier in diesem Wald auf sie gelauert hatte. Und sie war beunruhigt. Dieser Kerl hatte nicht Mr. Lancer ausgeschaltet, es war jemand anderes gewesen.


„Ich würde vorschlagen, sie ergeben sich, Frau Kommissarin. Ihr Mitarbeiter wäre ihnen sicher dankbar dafür.“

Hinter dem Baum, wo Mr. Lancer verschwunden war, tauchte eine andere Gestalt auf, ganz in Schwarz. Sie hielt einen Arm ausgestreckt von sich weg und über ihrer geöffneten Handfläche waberte eine undefinierbare grün – bräunlich schimmernde Masse.
„Seelen dienstbarer Geister sind sehr leicht zu extrahieren. Ich bin wirklich überrascht, dass so etwas im Ausseneinsatz des ASN arbeiten darf.“
Tinka brauchte einen Sekundenbruchteil um zu realisieren, dass der Nekromant vor ihr Eyffl Moorstab war und dass er Mr. Lancers Seele in Händen hielt.
Sie packte ihren Kollegen am Hemdärmel und zog ihn mit aller Kraft zurück. Mr. Quirr war auf der Stelle erstarrt, den Mund in Unglauben geöffnet.
„Verschwinden sie von hier, schnell!“ befahl sie ihm. Er wandte ihr das Gesicht zu und sah sie an, wie aus einer Versteinerung erwacht.
„Aber -“
„Holen sie Verstärkung!“, wurde sie deutlicher. Sie wusste, ihm die Flucht zu befehlen, würde ihn nicht überzeugen. Er nickte verbissen und nahm seine Sonnenbrille ab. Sofort verwandelte sich der Mann im schwarzen Anzug in einen riesenhaften Greifvogel, der sich in die Lüfte erhob und durch die Baumkronen verschwand.

„Das war sehr selbstlos, aber zugleich etwas kurzsichtig, finden sie nicht?“, sagte Eyffl und trat nach vorne. „Sie hätten mit ihm fliehen sollen, das wäre die richtige Entscheidung gewesen.“
Tinka verengte die Augen. „Ich habe nicht vor, meinen Partner zurückzulassen.“ Sie stellte den Korb hinter sich ab und krempelte die Ärmel hoch.
„Sie sind verhaftet!“


Manthis kicherte erneut. „Darf ich sie jetzt auseinander nehmen?“, fragte er den Nekromanten und knackte mit den Fingern.
„Mein lieber Manthis, ihnen fehlt ein gewisses Feingefühl, das man im Allgemeinen auch als „Lesen der Situation“ bezeichnet. Sehen sie nicht, dass sie hier eine mental fragile Frau vor sich haben, die eindeutig verunsichert ist?“
Manthis drehte sich entgeistert um und sah Eyffl mit einem Blick an, der ihm zeigte, dass der Mann ungefähr die Hälfte des von ihm Gesagten nicht verstanden hatte.

„Darf ich oder darf ich nicht?!“, wiederholte Manthis sichtbar ungeduldig. Aus seiner Sicht hatte eindeutig Eyffl nicht verstanden, was er meinte.

„Sie dürfen ihr den Korb entwenden. Diese Seele braucht ein Gefäß, damit sie mir nicht entweicht.“ er nickte auf den wabernden Dunst über seiner Handfläche.


„Sie werden den Kristall NICHT bekommen und diese Seele wieder mit ihrem Körper verbinden!“, befahl Tinka mit vor Wut bebender Stimme.
„Ich glaube nicht, dass sie die Möglichkeit haben, mich dazu zu zwingen. Jedenfalls keine Methode, bei der die Seele ihres Partners nicht in Gefahr gerät. Den Korb bitte!“, antwortete Eyffl freundlich lächelnd und streckte fordernd seinen freien Arm aus.
„Den Korb bitte!“, äffte Manthis ihn nach.

Tinkas Verstand arbeitete auf Hochtouren, aber ihr fiel wirklich kein Plan ein, wie sie mit den beiden Gegnern allein fertig werden konnte und auch noch Mr. Lancers Seele retten sollte.
„Falls sie sich fragen, was sie tun sollen, die Lösung steht hinter ihnen auf dem Boden. Geben sie mir den Kristall und ihnen wird nichts passieren.“, redete Eyffl weiter und hinderte sie daran sich zu konzentrieren. Tinka schüttelte nur den Kopf. Eyffl machte einen Finger gerade.
„Finden sie es nicht auch sehr seltsam, dass wir sie genau hier, genau jetzt gefunden haben? Glauben sie mir, es ist ihr Schicksal, mir den Kristall zu übergeben. Schon bald werden sie sehen, wie sinnlos ihr Widerstreben jetzt ist und wie sich alles zum Guten wenden wird.“

„Das zieht nicht.“ knurrte Tinka und beschloss, dass es jetzt genug war. Von ihrem Gegenüber völlig unerwartet, stürzte sie sich auf Manthis und rang ihn zu Boden. Sie hatte Glück, dass ihr Gegner ihre Statur hatte, so konnte sie ihn lange genug in Schach halten, bis sie aus ihrer Jackentasche magische Handschellen hervorgeholt hatte. Das Gerät in Form von einem Paar Hände mit langen, knochigen Fingern, schlang sich um die Handgelenke des Bestienritters und die Finger krallten sich fest um seine Haut. Manthis kicherte noch eine Weile überrascht vor sich hin, bis er merkte, dass er überrumpelt war. Langsam realisierte er, dass er mit seiner pelzigen Klaue zwar die Luft und den Waldboden, aber nicht seine Fesseln traktieren konnte.

„Ich bin wirklich überrascht, wie viel Elan sie in ihre Arbeit stecken, obwohl sie doch mit einem Fall betraut sind, der ihnen weder Prestige bringt, noch zu irgendeinem Ergebnis führen wird.“

Als sich die Kommissarin wieder aufrichtete, einen Fuß fest auf den zappelnden Manthis gestemmt, bemerkte sie mit Erleichterung und Verwunderung, dass Eyffl Mr. Lancers Seele noch immer nicht hatte entweichen lassen. Aber sie saß noch immer in der Klemme. Sie konnte nicht von der Stelle um den Nekromanten zu attackieren und sie konnte auch nicht wirklich den Kristall mitnehmen. Schnell ließ sie ihren Blick über den Himmel huschen, auf der Suche nach einem Raubvogel, der vielleicht ihren Aufenthaltsort umkreiste.


„Haben sie vielleicht noch ein paar Handschellen bei sich?“, fragte Eyffl frech und lächelte überlegen. Er machte noch einen Schritt vorwärts, aber sie wich nicht weiter zurück.

„Hilf mir gefälligst, du Geisterschlürfer!“, zeterte Manthis vom Waldboden aus. Diese Frau hatte wirklich eine erstaunliche Kraft, die er niemals erwartet hatte. An ihr war mit Sicherheit etwas nicht Menschliches.

„Sei still!“, schnauzte Tinka ihn an. Natürlich hatte sie nicht noch ein zweites Paar Handschellen bei sich. Sie hatte keine Wahl. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, Mr. Quirr war nirgends zu sehen und sie hatte keine Wahl.


„Die Zeit zum Nachdenken ist um!“, beschloss Eyffl. Er griff mit der freien Hand nach einem Schädel aus der Innenseite seines Mantels und ließ Mittel- und Zeigefinger in die Augenhöhlen gleiten.
„Bring mir den Korb.“
„Das werde ich nicht tun!“, sagte Tinka bestimmt, aber sie war gar nicht gemeint. Zu ihren Füßen trat weißer Qualm aus dem Boden. Er stieg durch Manthis (der erschrocken quietschte) hindurch nach oben. Vor Tinka baute sich der Geist einer riesigen Sphinx auf und ließ die Luft um sie herum auf den Gefrierpunkt sinken. Er knurrte die Kommissarin kurz an, glitt dann durch sie hindurch und griff sich den Korb mit dem Kristall darin. In einem großen Bogen rauschte der Geist durch die Luft und ließ den Korb vor Eyffl in der Luft schweben. Schon allein der kurze Kontakt mit dem Geist ließ alle Kraft aus ihrem Körper weichen. Tinka wurde schwindelig und schlecht. Sie taumelte zurück und musste den Fuß auf den Boden zurücksetzen. Manthis war allerdings bereits außer Gefecht gesetzt, er rührte sich nicht.

„Gib ihr den Rest.“, befahl der Meister seinem Geist. Das Biest drehte sich herum und das letzte, das Tinka zu Gesicht bekam, war sein weit aufgerissenes Maul, dass sich über ihr öffnete.


Lika schaute den Drachen nach, als sie sich von der Burg entfernten. Sie hatte ihnen vor ihrer Abreise noch eine Portion Futter gegeben und stand jetzt nach einiger Arbeit in einem aufgeräumten Stall. Lange hatte sie sich heute Morgen darum drücken können, aber jetzt, da ihre Arbeit erledigt war, schweifte ihr Blick wieder zu dem Hügel an Fleisch und Schuppen im Hof, der sich hob und senkte und sonst keinen Zentimeter vom Ort bewegte. Callas Riesendrache war nicht nur faul, sondern musste auch einen ziemlich leeren Magen haben. Lika sah zu dem großen Bottich in der Ecke des Stalls, den sie schon vor dem Frühstück besorgt hatte. Er war bis oben gefüllt mit Muscheln und Algen. Denn wie Calla ihr erzählen konnte, war der Drache zuvor im Meer vor der Küste gelegen, bis zur Schnauze im Wasser, mit einer ordentlichen Salzkruste auf dem Rücken und hatte den Meeresgrund abgegrast. Der Kalk der Muschelschalen tat besonders seinen Hornplatten gut, hatte sie sich erklären lassen. Die Portion, die da an der Wand stand, war höchstwahrscheinlich etwas... klein geraten, aber mehr ließ sich auf die Schnelle nicht auftreiben. Außerdem hatte sie irgendwie die Hoffnung, dass der Drache nach dem Snack Lust auf mehr bekam, sich erhob und zum Meer davon flatterte, das ja immerhin nicht so weit entfernt war.
Dann wollte sie es angehen. Jetzt, wo die anderen alle ausgeflogen waren, konnte sie sich doch mal wieder mit richtiger Arbeit beschäftigen, nach dem ganzen Turnier-, Überfalls- und Schicksalskram. Einen riesigen Drachen zu haben, der wusste, von wem er Futter bekam, konnte für sie schließlich auch von Vorteil sein, was auch immer noch passieren würde (sie hoffte allerdings, dass nicht allzu bald etwas passieren würde. Für Likas Geschmack reichte es jetzt erstmal).
Sie schob den Bottich auf eine Plane, die sie dann mit vollem Körpereinsatz in Bewegung setzte und hinter sich her zog. Natürlich war Grischmo viel zu beschäftigt, um ihr helfen zu können... Apropos Katerchen, sie musste ihn noch etwas fragen... etwas, das mit den Deckenmalereien in Atis' Feste zu tun hatte.... sie war sich nach längerem Nachdenken doch sicher, dass die abgebildeten Figuren doch eher Katzenohren als Schleifen in den Haaren hatten. Vielleicht konnte sie ihn ja so dazu bringen, sich das Buch der Königin anzuschauen. Das hatte jetzt allerdings Thalia dabei.


Der Drache hob weder seinen Kopf, noch öffnete er auch nur ein Auge, als Lika sich ihm näherte. Sie zog ihm die Mahlzeit bis vor die Schnauze, ohne dass er sich rührte.
Sie hob eine Augenbraue.
„Ich werde dich NICHT füttern...“
Der Drache machte beim Ausatmen einen besonders großen Schnauber und ließ ihr die Plane aus der Hand gleiten.
„Vielleicht nicht mehr frisch genug. Vielleicht will er es im Wasser fressen.“ Sie kratzte sich ratlos am Kopf und zuckte schließlich mit den Schultern.
„Nicht mein Problem, Dicker.“ Sie umschloss den Bottichrand mit beiden Händen und stemmte sich mit ihrem ganzen Gewicht gegen das Gefäß, bis es schließlich umkippte und sich der Inhalt vor der Nase des Umgetüms auf dem Boden verteilte.
Der Drache schnupperte. Er öffnete ein Auge. Dann öffnete er zwei und fixierte damit die grüne, glibberige Masse, zwischen der es weiß hervorblitzte. Und schließlich, ohne den Kopf zu heben, öffnete er sein Maul, einem Gähnen gleich. Nur – er machte es nicht wieder zu. Lika waren all seine Zähne und sein Mundgeruch offenbart, während er sie mit müden Augen fixierte und ein raunendes Knurren von sich gab.

„Nein.“
Das Raunen wurde fordernder. Irgendwie kam ihr auf einmal das Bild einer Nilpferd Zahn-Bürstung im Zoo in den Kopf.
„Also schön.“, seufzte sie geschlagen und ging in den Stall eine Mistgabel holen.

Auf ihrem Rückweg sah sie, wie ein bläulicher Schatten aus der Burgmauer hervor kam und Richtung Waldeingang schwebte. Erst dachte sie, sie hätte sich geirrt, er war kaum zu erkennen in der Sonne, wurde aber im Schatten der Zwingermauer wieder deutlicher. War das – am helligsten Tag – etwa der Geist des früheren Burgherrn? Seit wann unternahm der denn Spaziergänge (obwohl er ja nicht ging, sondern schwebte) außerhalb der Gemäuer? Konnte er etwa aus freien Stücken seine Burg verlassen? Ihr lief ein Schauer über den Rücken. Mit einem sehr mulmigen Gefühl beschleunigte sie ihre Schritte.

Lika sah zu den Zinnen hinauf, aber die Wachkuh lag friedlich da und kaute wieder. Da sie diesem Vieh aber nicht wirklich traute, beschloss sie, so schnell es ging den Überwachungsspiegel zu holen. Da sie aber wusste, wie wichtig konsequentes Handeln für das Erziehen eines Drachen war, kehrte sie zu dem riesigen Schuppenberg zurück, der sie brav da liegend erwartete.

„Aaah machen.“ sagte sie mit einer vollen Schippe Futter und tatsächlich, ihrer Bitte wurde Folge geleistet. Der Drache öffnete sein Maul und nahm seinen Snack bis zum letzten Stängel Seetang entgegen. Beim Kauen knirschten und knackten die Muschelschalen zwischen seinen gewaltigen Zähnen.
„Das schmeckt dir also tatsächlich!“, freute sich Lika und tätschelte eine hornige Schuppe. Der Monsterdrache grunzte zustimmend.
Aber das Grunzen klang verdächtig nach einem Muhen...
Als Lika noch einmal zum Dach hoch schaue, stand die Marmorkuh aufgerichtet da, machte den Hals lang und hatte die Ohren aufgestellt. Sie schaute sehr aufmerksam in die Richtung des Haupteingangs.


„Also doch!“, knurrte Lika und machte sich auf den Weg. Aber das Haupttor? Vielleicht war es ja Thalia, die etwas vergessen hatte. Mit der Heugabel in den Händen rannte Lika los.
Direkt vor dem großen Eingangstor sah sie die Eindringlinge.
„Hey!“
Es war nicht unbedingt die klügste Entscheidung ihres Lebens, als sie beschloss die beiden Männer zu konfrontieren.
„Ihr seid-“
Manthis und Eyffl blieben stehen, als die Ritterin in Gummistiefeln und Stallklamotten vor ihnen bremste.
„Wir sind eigentlich schon fertig hier. Schönen Tag noch.“, sagte Eyffl in aller Ruhe. Er wollte schnell aus der Sonne, denn die brannte ihm in seinem schwarzen Umhang ganz schön auf den Schädel.
„Ich kenne die Frau, Eyffl...“, grinste Manthis und verengte die Augen, „... die hat nichts drauf. Wollen wir nicht DOCH etwas -“
„Nein!“, verbat ihm der Schwarzmagier, „Das ist nicht unser Plan.“
Lika blickte, die Heugabel wie einen Speer vor sich haltend und ziemlich verunsichert von einem zum anderen. Der Kleine hatte sie bereits bei der Schattenfuchsjagd angegriffen und der Große, das wusste sie nach ihrem Gespräch, hatte den anderen Probleme gemacht.
„Wie kommt ihr hier rein?!“, fand sie ihre Stimme wieder. Dann fiel ihr Blick auf den Korb an Eyffls Arm, in dem Lebensfrost funkelte.

„Ihr habt -?!“

„Wir haben alles, was wir brauchen. Komm jetzt, Manthis, wir gehen.“
Eyffl wandte sich um und schritt voran. Der Mann mit der Tierkralle wirkte sichtlich enttäuscht, buhte Lika, die etwas zurück zuckte, ins Gesicht und folgte ihm.

„Hey! Ihr könnt nicht – bleibt sofort stehen!“, rief sie ihnen eher halbherzig hinterher.
Sie war allein, nur mit einer Heugabel bewaffnet und sollte eigentlich froh sein, wenn die „Angreifer“, die einfach so Thalias Schutzzauber überwunden hatten, von Dannen zogen. Dass sie, nachdem André und Nea sie so schön reingelegt hatten, doch noch den Kristall bekommen hatten, regte sie aber so auf, dass sie etwas tun wollte.


Sie warf die Heugabel von sich und holte die Ritterinnenwaffe hervor. Die zwei Bestienritter mussten das irgendwie mitbekommen haben, denn sie blieben stehen und wandten die Köpfe um. Eyffl beäugte misstrauisch triple spiral. Er wusste nicht, was diese Frau damit anstellen konnte. Und Lika wusste nicht, was sie damit anstellen sollte. Sie hielt den Dreizack genau so wie die Heugabel auf die Eindringlinge gerichtet. Sie hatte sie gerade eine kleine Weile damit fixiert, da passierte es. Lika dachte, sie wäre aus der Zeit gerissen worden. Während alles um sie herum verschwamm, waren nur noch Eyffl und Manthis scharf zu sehen. Sie sah, wie Eyffl seine Lippen bewegte, dann Manthis, dann wandten sie sich wieder um und setzten ihren Weg fort. Aber sie verließen Lika nicht, sondern sie konnte ihnen zusehen, wie sie ihren Pfad wie in Zeitraffer beschritten, in einer Stadt erschienen, dort einige Gassen beschritten und schließlich vor einem Haus ankamen. Als Manthis an die Tür des Gebäudes klopfte, das aussah wie eine Taverne oder etwas ähnliches, normalisierte sich die Geschwindigkeit ihrer Bewegungen. Lika konnte sehen, wie ihm die Tür von einem grobschlächtigen Mann geöffnet wurde und die beiden, Eyffl hatte noch immer den Korb mit Lebensfrost am Arm, eintraten, dann war das Schauspiel zu Ende. Sie stand wieder vor der Burg und hatte die rostige Gabel in der Hand.
Lika blinzelte ein paar mal und schüttelte den Kopf, ihre Augen tränten von den raschen Eindrücken.
„Ist etwas?“, sprach Eyffl sie an. Er wirkte nicht, als sah er sie als würdigen Gegner an.
Die Ritterin schüttelte den Kopf und nahm den Dreizack nach oben.
„Ha, erbärmlich!“, schnaubte Manthis.
Lika sah ihnen nach, wie die beiden sie auf genau dem Pfad verließen, den sie soeben gesehen hatte.
Sie hatte... soeben in die Zukunft gesehen. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das angestellt hatte, aber es war passiert, einfach so. Sie packte triple spiral schnell weg, bevor es noch einmal passieren konnte. Sie musste sich konzentrieren!
Die beiden hatten Lebensfrost bei sich, das heißt, sie waren Tinka begegnet. Sie hatten es irgendwie geschafft, durch den Illusionszauber der Burg zu kommen. Sie musste Thalia Bescheid geben. Sie musste Tinka kontaktieren. Alles Mögliche musste getan werden und zwar schnell.
„GRISCHMOO!“
Sie hatte eine vage Ahnung, was passiert war, aber sie musste sich erst organisieren. Auf der Suche nach dem Kater lief sie durch die Burg. Sie erwischte ihn schließlich, als er die Treppe aus dem Keller herauf rannte.
„Was... gibt es? Ist etwas passiert?“ Der Shandrane hatte sie gehört, denn er hatte gute Ohren.
„Ja – zwei Bestienritter waren gerade hier. Kannst du bitte den Geist des Burgherren für mich suchen und Bescheid geben, wenn du ihn entdeckt hast?“
Grischmo klappte ein paar mal den Mund auf und zu bevor er diese für ihn unzusammenhängenden Sätze verarbeitet hatte.
„Okay... Sind wir in Gefahr?“, rief er Lika hinterher, die bereits an ihm vorbei die Treppe hinauf gerannt war.
„Kann gut sein!“, kam die Antwort vom oberen Treppenabsatz. Sie hatte jetzt keine Zeit für Erklärungen, sie brauchte jetzt schnell Stift und Papier.

Also machte sich Grischmo auf die Suche. Das erste, was er fand, war aber kein Geist, sondern Aicyn, der vorsichtig die Tür der Besenkammer öffnete. Der Shandrane war es gewohnt, den Zentauren an ungewöhnlichen Orten auftauchen zu sehen, also wollte er schon weitergehen, aber Aicyn schnappte seinen Ärmel und hielt ihn fest.
„Er war hier, stimmt's?“ Aicyns Stimme ließ das Grauen vermuten, dass ihn in diese Besenkammer getrieben hatte.
Wie jede Katze konnte Grischmo es überhaupt nicht leiden, festgehalten zu werden und fing an, gegen die Gefangennahme anzukämpfen.
„Eyffl war hier! Was wollte er von uns? Habt ihr ihn vertrieben?“
Aicyn spähte den Korridor hinunter, als erwartete er, dass der Nekromant ihnen jeden Moment entgegen schreiten könnte.
Grischmo legte die Ohren an und konnte sich durch das Ausfahren seiner Krallen befreien.
„Ich weiß es nicht, du... du Panikpferd!“, fauchte er, obwohl er im Moment auch nicht die Ruhe in Person war.
„Frag Lika.“ Während Grischmo seinen Suche fortsetzte, traute sich Aicyn erst nach gehörigem Zögern aus seinem Versteck heraus. Er wusste, dass diese Festung nicht mehr sicher war. Sein Hort war entdeckt und in den Fokus des Feindes geraten.
Er schlich über den Korridor zum Aufzug. Als sich die Tür schloss, wurde das beklemmende Gefühl in seinem Bauch noch stärker. Zum Glück funktionierte sein Frauen-Aufspür-Sinn noch, weswegen er wusste, dass er den Bibliotheksturm ansteuern musste, um Lika zu finden. Der Gang über den Hof war das schlimmste Stück der Strecke. Seine Hufe auf dem Pflaster waren verräterisch laut und die Burgmauern schienen immer näher an ihn heran zu rücken. Er sehnte sich nach einer weiten Wiese, auf der er wegrennen konnte, bis er sicher war. Aber gab es überhaupt noch einen sicheren Ort?
Mit einem regelmäßigen Blick über seine Schulter versicherte er sich, dass der schwarze Schatten, den er über sich spürte, nur seiner Einbildung entsprang. Trotzdem fühlte er sich beobachtet. Die marmorne Kuh aber hatte sich beruhigt und kaute wieder vor sich hin.
Als Aicyn die große Tür der Bibliothek erreichte, klammerte er sich an ihren Griff wie ein Ertrinkender an ein Stück Treibholz. Die Bibliothek war ein toller Ort. Ein Ort der Ruhe und des Wissens, nicht der schlechten Vorahnung und der Panik. Niemand würde einen Raum voller Bücher überfallen, oder?
Lika saß in der Mitte des Bodens, hatte einen Block Papier auf dem Schoß und war mit dem Bleistift zu Gange. Es war so still, dass man das Graphit über das Blatt gleiten hörte. Als Aicyn sich ihr näherte, trat er auf eine der fertigen Zeichnungen, die um sie herum verstreut lagen.
„Pass bitte auf, Aicyn...“

„Was machst du da, Likalein?“

Hatte sie noch nicht begriffen, dass diese Festung gefallen war?

„Ich zeichne. Störe mich bitte nicht.“, murmelte sie, ohne auch nur aufzusehen. Aicyn umkreiste sie und betrachtetet dabei die Zeichnungen von Häusern und Straßenzügen, eine Art Karte und das Bild eines Mannes mit fetten Lippen und dicken Augenbrauen.

Eyffl musste sie verhext haben – die Frau war ja völlig nutzlos!
„Willst du nicht die anderen benachrichtigen? Eyffl Moorstab war hier! Ruf Sadira! Oder Thalia! Thalia wird bestimmt mit ihm fertig!“
Lika schüttelte den Kopf.
„Die zwei müssen etwas Wichtiges erledigen. Wir haben noch genügend Zeit.“ Sie blickte kurz auf.
„Glaub mir.“
Aicyn versuchte sich zu beruhigen und begann im Kreis zu laufen. Lika seufzte über die entstandene Unruhe.
„Wenn du etwas Nützliches machen willst, dann geh doch bitte Holz sammeln und hacken.“
Aicyn blieb stehen und sah sie fragend an.
„Wir brauchen einen Aschering gegen Geister.“

Macht das nicht zu Hause nach, Kinder!

Während all das in der Ritterinnenburg geschah, hatte Thalia Adarwen auf dem Festland abgesetzt und war weitergeflogen. Die Spionin und das Edelsteinduo standen nun auf dem Dach eines stillgelegten Kaufhauses, wo Condor auf sie warten würde.

Während des Fluges hatten sie nicht wirklich die Möglichkeit gehabt, einen Plan auszutauschen, weswegen Lapis jetzt umso gespannter war zu erfahren, was Adarwen weiter vor hatte.

„Warst du schon einmal in diesem Archiv?“, fragte er, während sie sich die Haare zu einem Zopf flocht. Onyx indessen schien es nicht so wichtig, zu erfahren, wohin sie ihr Weg führen würde und streichelte unbeirrt im Hintergrund die giftgrüne Schnauze des Drachen, dem das sichtlich zu gefallen schien.
„Eigentlich nicht“, antwortete Adarwen, „Aber ich habe eine Kontaktperson, die uns helfen kann, hinein zu kommen. Er kennt jemanden, der mitgearbeitet hat, als damals der Abwehrmechanismus des Gebäudes eingebaut wurde.“
Lapis nickte eher zurückhaltend. Sie kannte also jemanden, der jemanden kannte....
Adarwen zog sich eine andere Jacke an und schloss den Reißverschluss.
Die drei ließen nun Condor zurück und stiegen das Hochhaus hinunter.
„Könnt ihr zwei eigentlich einfach so in einer Stadt spazieren gehen, ohne dass man euch erwischt?“, interessierte die Spionin.
„Ja. Wieso?“, sagte Lapis ganz lässig.
„Ich dachte nur, ihr werdet von einer ganzen Abteilung gesucht, oder so...“
„Ich bin eben vorsichtig.“, erklärte Lapis.
Onyx trödelte ein bisschen und sah sich gedankenverloren in den verstaubten Verkaufsräumen um. Einen Moment lang tauschte er Blicke mit einer Ratte aus, die angewurzelt auf den Hinterbeinen stehen geblieben war, als er sie entdeckt hatte.
Die Ratte schnupperte und starrte, Onyx schnupperte und starrte, und dann setzten beide ihren Weg fort.
Ganz unten am Hintereingang angekommen, setzte sich Adarwen von den beiden ab, um ihren Informanten zu treffen.
Lapis wartete nervös auf ihre Rückkehr, immer noch mit dem Zweifel im Hinterkopf, dass sie doch gleich mit einem ASN-Kommando zurück kommen könnte, dass sie verhaften wollte.
Sie tauchte aber auf und zog gleich wieder ihre Jacke aus und löste den Zopf.
„Ich weiß, wo wir hin müssen. Könnte etwas dreckig werden.“
„Warum?“
„Wir müssen in die Kanalisation.“
Lapis musste kurz lachen.
„Kein Problem.“
Sie setzten ihren Weg durch die Großstadt fort und hielten sich immer in den schmälsten der von Hochhäusern gesäumten Seitengassen auf, machten manchmal größere Umwege (die laut Adarwen sicherer waren) oder komplett kehrt, wenn Onyx ein schlechtes Gefühl beschlich, das er durch plötzliches Stehen bleiben zum Ausdruck brachte.
Schließlich waren sie an einem offenen Kanal angekommen, den ein kleines Grasstück an jedem Ufer vom schmalen Gehweg an den Häuserrückwänden trennte. An einer Stelle, wo eine Brücke die beiden Ufer miteinander verband, stiegen sie durch eine Luke in den Bauch der Stadt hinab.


Als Onyx als letzter in die Kanalisation stieg und hinter sich die Luke schloss, umfing sie Dunkelheit und das leichte Plätschern und Tropfen von Wasser.

Adarwen griff in ihre Tasche und holte eversun, ihre Ritterinnenwaffe hervor. Als sie die linke Hand um die kleine Schöpfkelle schloss, blätterte sich wieder der Panzerhandschuh auf, der beim letzten Kampf mit den Bestienrittern zerstört worden war und umgab schützend ihren Arm. Sie blinzelte und seine magische Fähigkeit, die er schon bei Mesa gehabt hatte, aktivierte sich. Nach kürzester Zeit sah sie deutlich ihre Umgebung, als wäre es hellster Tag.
„So. Darf ich?“
Das einzig Nützliche, das sie aus ihrer Ritterinnenprüfung mitgenommen hatte, so fand die Spionin, war das Wissen, wie man diese Fähigkeit in vollem Umfang nutze.
Sie tippte Lapis und Onyx an die Schultern und an ihren Reaktionen wusste sie, dass die Fähigkeitsübertragung stattgefunden hatte und jetzt auch sie im Dunkeln sehen konnten.
„Irgendwo hier muss ein Mechanismus sein, der uns in das Sicherheitssystem bringt...“
Sie suchte den schmalen Weg vor sich ab und ließ den Blick über das dunkle, träge vor sich hin fließende Brackwasser gleiten. Es stank. Es stank richtig. Sie hoffte inständig, dass die Aktivierung nicht unter Wasser angebracht war. Dann durfte einer vom Edelsteinduo runter steigen.
Adarwen bemerkte, dass die Tunnelwand zu ihrer Linken gemauert war. Das klassische Versteck für einen losen Stein.

Sie legte eversun auf den Stein und ließ die Wand leuchten. Während die Steine kein Licht wiedergaben, kam das Strahlen aus den Ritzen hervor. Aber etwas ließ die Spionin stutzen. Es bildeten sich keine Lichtquader, sondern es zeichnete sich ein Muster in Form eines großen Pfeils ab. Der Pfeil deutete wiederum direkt auf einen Stein. Adarwen zögerte.

„Das stinkt zum Himmel.“
Sie trat vor den verdächtigen Steinquader und tastete ihn mit der Hand ab. Er fühlte sich eindeutig anders an, als die anderen Steine.
„Ich möchte ehrlich gesagt nicht ausprobieren, ob das der Auslöser für den Eingang oder eine tödliche Falle ist.“
Lapis stand neben ihr und seine Nase berührte fast die Mauer, als er sich vorbeugte, um die Inschrift auf einer Messingtafel zu lesen, die sich in der dunklen Mitte des Leuchtpfeils befand und deshalb schwer zu bemerken war.
„Schraubkatz der Tüftler – Gedächtniskanal? Wer ist denn-“
Kaum hatte er den Namen ausgesprochen, wurde ihm auch schon der Boden unter den Füßen entzogen, als sich plötzlich ein Loch auftat und er in die Tiefe stürzte.
Ein erschrockener Schrei und das Klonk! seiner schweren Stiefel zeigten, dass es nur ein kurzer Sturz gewesen war.
„Hab den Eingang gefunden!“, verkündete er aus der Tiefe.


Vor der entstandenen Bodenöffnung erschien Onyx' Gesicht.
„Alles in Ordnung, Großer!
Ich denke, ihr könnt runter kommen. Hier ist zwar alles voller Rohre, aber sicher. Der Boden ist uneben, also seid vorsichtig!“
Sein Partner ließ es sich nicht zweimal sagen und sprang, gar nicht vorsichtig, hinterher.

Lapis half ihm auf der Pipeline wieder ins Gleichgewicht zu kommen.
Adarwen schüttelte immer noch den Kopf. Mit den beiden lief sie doch in ihren sicheren Tod!
Auch, wenn sie es sich nicht eingestehen wollte, war sie angefressen, weil Lapis den Eingang gefunden hatte und nicht sie. Obwohl es ein Glückstreffer war, natürlich...
Mit Hilfe von eversun hangelte sie sich nach unten. Der Sprung war so tief, dass sie beim Aufkommen in die Hocke gezwungen wurde.
„Hände weg!“, fauchte sie Lapis an, der ihr aufhelfen wollte.
Der Gesuchte hob sofort die Hände als wollte er sich ergeben und trat einen Schritt zurück.
„Der Eingang wurde durch Aussprache des Namens des Chefkonstrukteurs aktiviert. Wer weiß, was noch alles mit Sprachaktivierung funktioniert, also passt auf, was ihr sagt!“, macht sie ihnen deutlich.
Onyx nickte stumm.

„Der Chefkonstrukteur heißt Schraub-“
Da Adarwen alarmierend zischelte, verstummte Lapis wieder.
„Ich meine... jemand mit so einem bescheuerten Namen hat dieses Abwehrsystem entwickelt? Das ASN hat wirklich einen seltsamen Geschmack.“
„Du würdest dich wundern, was für Freaks dort arbeiten und regelmäßig unehrenhaft entlassen werden.“, entgegnete sie.
„Kein Wunder, dass die sich eine ganze Menge Feinde machen.“
Lapis' Bemerkung triefte vor Genugtuung und veranlasste die Ritterin zu einem skeptischen Blick.
„Hast du nicht auch mal für das ASN gearbeitet?“
„Schon“, kam die reservierte Antwort.

Adarwens Skepsis und Neugier wurden immer größer.
„In welcher Abteilung hast du gearbeitet?“, fragte sie mit verengten Augen.
„In einer Außenabteilung der PT“, sprach Lapis voller Verachtung. Adarwens überraschter Gesichtsausdruck ließ ihn innerlich fluchen, dass er die Wahrheit erzählt und sich nicht irgendetwas aus den Fingern gesogen hatte.
Adarwens Überraschung kam daher, dass sie sehr wohl wusste, wofür die Abkürzung PT stand. Die Abteilung für Problemtilgung war einer der großen Zuständigkeitsbereiche dieses spinnenartigen bürokratischen Gebilde namens ASN. Schlicht ausgedrückt hatte Lapis ihr gerade erzählt, dass er für das Militär gearbeitet hatte.
„Ach.“, rutschte Adarwen heraus.
„Wollten wir nicht in diesen Saftladen einsteigen?“, seufzte Lapis genervt.
Er hatte Recht. Adarwen blinzelte und konzentrierte sich wieder auf ihre Umgebung.

Das Rohr, auf dem sie standen, war nicht das einzige hier. Zu allen Seiten führten sie nach oben, unten oder verschwanden in der Ferne in der Dunkelheit. Dazu kamen Zahnräder und Kolben, die sich ständig bewegten und einen chaotischen Rhythmus für dieses Uhrwerkslabyrinth spielten. Alle Nase lang musste man fürchten zerquetscht zu werden oder abzustürzen. Es war aus dem Wirrwarr nicht herauszulesen, in welche Richtung sie mussten oder wo überhaupt ein begehbarer Weg war.

„Hier wollte ich noch nicht mal als Maus lang müssen...“, statuierte Lapis.

So langsam wurde für Adarwen auch klar, warum sie keine Pläne für dieses Konstrukt hatte kriegen können. Schraubkatz der Tüftler hatte schlichtweg keine gehabt. Und wenn es welche gegeben hätte – Adarwen glaubte nicht, dass sie damit zurecht gekommen wäre. Es war wahrscheinlich einfacher, einen 3000 – Teile Bausatz des Schlosses Neuschwansteins mithilfe einer thailändischen Bedienungsanleitung zusammen zu bauen.
Adarwen stieß einen lauten Seufzer aus.
„Wie sieht der Plan aus, Bonny?“, fragte Lapis zu ihrem Ärger.
„Der Plan, du Super-Verbrecher, besteht darin, dass ihr versucht nicht zwischen die Zahnräder zu kommen oder irgendwelche Fallen auszulösen.“
„Schon verstanden. Du hast keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht!“, sagte Lapis und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Oh, natürlich habe ich Ahnung!“ Adarwen verschränkte ebenfalls die Arme. Sie standen sich gegenüber und maßen sich in stillem Anstarren.
Onyx widmete seine Aufmerksamkeit einer Bewegung, die er zu seiner Rechten wahrgenommen hatte.
„Pendel.“
Pendel? Adarwen und Lapis wandten synchron ihre Köpfe zur Seite und sahen jetzt auch das schwere Eisenpendel, das in seiner Größe an eine Abrissbirne erinnerte. Mit roter Farbe war ein Gesicht darauf gepinselt.
„Runter!“
Durch einen Sprung auf die Rohre unter ihnen entkamen sie der grinsenden Bedrohung, die kurz vor der Wand direkt über ihrer vorherigen Pipeline in der Luft zu stehen kam und dann kehrt machte.
„Ich werde diesen Typen, der für diese... Widerwärtigkeit von einem Archiv verantwortlich ist, aufspüren und ihm meine Meinung darüber mitteilen!“, knurrte Lapis, als er sich mit Ächzen auf die Rohre hangelte, an denen er sich bei ihrem Ausweichmanöver nur mit den Armen hatte festhalten können.

Sie knarzten verräterisch, als sie alle drei aufrecht darauf standen. Sie waren sicher nicht für eine so große Belastung geschaffen.
„Da lang!“, sagte Adarwen kurzentschlossen und balancierte los. Diesmal hatte Lapis nichts auszusetzen. Es war sicherlich nicht verkehrt, hier nicht lange an einem Ort zu verharren.
Sie kraxelten durch Röhren, huschten zwischen stampfenden Pressplatten hindurch und ließen sich von riesigen waagrecht angebrachten Zahnrädern mittragen. Oft führte sie ihre Wanderung weiter nach oben oder unten, so dass sie schließlich jeglichen Orientierungssinn verloren hatten.
Schließlich wurde ihr Weg von einer dicken Stahlwand versperrt, die nur kleine Löcher hatte, durch die einige der Rohre weiter führten.
Die Plattform, die sie ratternd hier hergeführt hatte, senkte sich und rastete in den Metallboden ein, der an der Wand entlang wie eine Art Balkon angebracht war. Die Drei verließen schnell ihr Gefährt.
Und tatsächlich, ein Mechanismus, der ganz in der Nähe eine Feder aufzog, ließ die Plattform kurz danach nach oben schnellen, wo sie gegen eine vergitterte Fläche knallte und an ihr entlang schrammend wieder nach hinten transportiert wurde.
„Autsch...“, murmelte Lapis heute nicht zum ersten Mal.

Adarwen sah sich schon nach neuen Gefahrenquellen um und Onyx hob interessiert die halbe Schale einer Haselnuss auf und zeigte sie überrascht seinem Partner.
„Was hast du da?“
„Die lag da.“, antwortete Onyx und deutete auf eine Stelle auf dem Boden vor der Wand.
„Da hatte wohl eine Maus ihr Mittagessen.“, seufzte Adarwen, der Onyx' kindlicher Entdeckungssinn langsam auf die Nerven ging.
„Mäuse- sehr gut!“, rief Lapis mit einem Funkeln in den Augen und klopfte seinem Freund anerkennend auf die Schulter.
„Die findest du!“
Onyx nickte, hob den Kopf und lauschte.
Adarwen fragte sich, was er zwischen dem Rattern, Stampfen und Klacken heraushören wollte. Vielleicht Mäusefüße?
„Er kommt hier her.“, sagte Onyx nach kurzer Zeit, was Lapis wieder ein Grinsen ins Gesicht zauberte.
„Aber er hört nicht auf mich.“, fügte der Große hinzu.
„WER kommt hier her?!“, zischelte Adarwen, die Angst hatte, dass derjenige schon in Hörweite war.
Onyx nickte zu einem dünnen Rohr, das durch die Wand führte. Als sich, die rotbraunen Pfötchen voran ein Eichhörnchen durch die Öffnung um das Rohr herum zwängte, wurde Adarwens Frage beantwortet.
Das Eichhörnchen bemerkte die Eindringlinge und verharrte in der Bewegung. Die Drei machten das genau so.
„Sag ihm, es soll uns ins Archiv führen!“, flüsterte Lapis Onyx zu, der das Tier mit seinen grauen Augen fixierte.
Das Eichhörnchen starrte wie hypnotisiert zurück. Man sah nur, wie sich seine kleine Stupsnase aufgeregt bewegte.
„Er hört nicht auf mich.“, wiederholte Onyx.
„Wieso nicht?“, wunderte sich sein Partner, der es gewohnt war, dass Onyx ohne Probleme wilden Tieren Anweisungen erteilen konnte. Es war ihm zwar ein Rätsel, warum die Viecher ihm gehorchten, aber es war schon sehr nützlich gewesen.
„Er ist kein Tier.“
Jetzt nahm das vermeintliche Eichhörnchen Adarwen ins Visier. Sie hatte das mulmige Gefühl, dass dieses Ding ihnen gefährlich werden könnte.
„Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen – was ist es dann?!“, schimpfte Lapis.
„Wahrscheinlich – ein verwandelter Mensch.“
Es sah so aus, als würde das Eichhörnchen kichern. Dann sprang es auf die Wand und lief senkrecht daran herunter und direkt auf Adarwen zu. Vor ihren Füßen begann es Kreise zu drehen und sich auf die Hinterbeine zu stellen.
„Das heißt, der ist vom ASN? Kann er sich zurückverwandeln?“, wollte Lapis wissen, aber Onyx zuckte mit den Schultern.
„Ich habe Gerüchte gehört... dass das ASN seine Angestellten an die jeweilige Arbeitssituation körperlich anpasst...“, murmelte Adarwen und ging in die Hocke. Das Fell des kleinen Kerls war teilweise schwarz von Maschinenöl. Das Eichhörnchen schnupperte an ihrer Tasche. Eigentlich hatte sie nichts zu essen da drin, überlegte sie. Oder doch! André hatte ihnen etwas gegeben, dessen Zweck ihr jetzt klar wurde.
Adarwen griff mit einer Hand in ihre Tasche hinein und holte einen der Hamsterkräcker hervor, der ihr sofort aus der Hand gerissen wurde.
„Ich weiß nicht, ob du mich verstehen kannst, aber wenn du uns ins Archiv lässt, kriegst du noch einen.“
Das Eichhörnchen putzte seinen Kräcker weg und flitzte los.

„Nicht schlecht, Bonny!“
„Hör auf mich so zu nennen!“, fauchte Adarwen.
Okay, dann würde Lapis sich das Lob in Zukunft eben sparen.
Sie standen da und warteten, währen sie die Geräuschkulisse langsam paranoid werden ließ.
Als Adarwen schon daran zweifelte, dass noch etwas passieren würde, begann es auf einmal hinter der Wand zu rattern und ein Teilstück schob sich langsam nach oben, bis ein Durchgang freigegeben war. Hinter der Wand führte eine Treppe aus Gusseisen zuerst gerade nach oben, bis sie nach rechts bog und sich in eine Wendeltreppe verwandelte.
Adarwen und Lapis grinsten sich an und vergaßen dabei ganz, nicht einer Meinung zu sein.
Das Eichhörnchen saß auf der untersten Stufe und erwartete sie bereits.
„Das könnte genau so gut eine Falle sein...“, murmelte Lapis, als sie die Wandöffnung durchquerten. Kaum war Onyx als letzter hindurch, senkte sich die Metallplatte auch schon wieder und verschloss die Tür.
„Ich würde etwas mehr Vertrauen in André haben.“, sagte Adarwen und wunderte sich selbst ein bisschen darüber.
„Ich vertraue lieber in die Fähigkeiten meines Partners.“, gab Lapis kalt zurück. Vertrauen oder nicht, der Weg war jetzt einfacher als vorher. Sie mussten jetzt nur noch Treppen steigen. Auch wenn es immer noch viele Abzweigungen und Möglichkeiten gab, sich zu verlaufen, war der Aufenthalt an diesem Ort wenigstens nicht mehr so tödlich. Und um ans Ziel zu kommen, mussten sie nur noch ihrem freundlichen Eichhörnchen- Guide folgen. Der führte sie zu einer Sackgasse, in der ein schäbiges, altes Schränkchen stand.

Mit einem Satz war das Eichhörnchen darauf gesprungen und begann mit den Vorderpfoten Buddelbewegungen auf dem Holz zu machen. Lapis und Adarwen gingen vor dem Möbel in die Hocke. Die Schranktüren klapperte ein bisschen und wenn Adarwen genau lauschte, konnte sie ein leises Brummen darin hören.
„Na dann, das scheint der Eingang zu sein!“, sagte Lapis und griff nach dem Knopf an der Schranktür. Adarwen legte ihn zurückhaltend eine Hand auf den Arm.
„Es könnte eine Falle darin geben. Ihr zwei geht besser zur Seite.“
Lapis nickte und zog sich mit seinem Partner an die Wand zurück. Adarwen platzierte sich so vor der Schranktür, dass nur ihr linker Arm mit eversun in direkter Schusslinie war und öffnete mit einem Ruck den Schrank. Staubige, trockene Luft blies ihr entgegen und der unverkennbare Geruch vermodernder Archivalien. Zu ihrer Überraschung hatte der Schrank keine Rückwand. Stattdessen trennte sie ein Gitter vom Archiv ab.
„Ich glaube, das hier ist so eine Art Belüftung...“, sagte Adarwen. Sie griff mit der Hand hinein und konnte das Gitter abnehmen.
„Dann wollen wir mal!“, beschloss sie und nickte Lapis zu. Vorher überreichte sie dem Eichhörnchen seinen zweiten Kräcker.
Dann betraten die drei durch diese Öffnung das Zentralarchiv des ASN.


Das Magazin, das vor ihnen lag, war genau so dunkel wie das Labyrinth zuvor. Dank eversun sah Adarwen aber den Boden unter ihr, als sie sich vom Lüftungsschacht hinunter fallen ließ. Sie hatte befürchtet, dass hier jemand arbeitete.
Aber da dieses Archiv der Öffentlichkeit nicht zugänglich gemacht wurde, wurde es relativ wenig frequentiert. Die Archivare mieden diese Abteilung, weil das Forschen an den hier untergebrachten Dokumenten nur Ärger machte.
„Na dann mal viel Spaß beim Suchen...“, murmelte Lapis, als er den Blick durch den Raum schweifen ließ. Schwere Stahlregale, die bis zur Decke ragten, füllten den Raum. Sie waren nicht ordentlich in Reihen angeordnet, sondern mal nebeneinander, dann als Block, dann wiederum als Winkel... Es war nicht abzusehen, wie groß dieses Magazin war und es war genau so labyrinthös wie die Abwehranlage davor. Dazu kam noch, dass die Archivalienregale mit vergitterten Türen versehen waren, um deren Griffe sich schwere Eisenketten mit Vorhängeschlössern schlängelten.
„Das nenne ich mal Informationen unter Verschluss halten! Mir war ja bewusst, dass das ASN nicht gerne mit Interna herausrückt, aber das hier bringt die Geschichte gleich auf ein ganz anderes Level!“
Lapis verschränkte die Arme und spazierte die Regalreihe entlang.
„Ich muss die Aufzeichnungen über Callas Volk finden.“, erinnerte Adarwen ihn.
„Na dann... ich suche woanders. Man sieht sich, Sherlock!
Onyx, komm mit.“
Onyx, dessen Augen in dieser speziellen Art zu sehen ganz schwarz erschienen und somit die tatsächlichen Lichtverhältnisse widerspiegelten, wollte sich Lapis bei der Suche anschließen, zögerte aber auf einmal, als er etwas Seltsames wahrnahm. Die Augen auf eine Öffnung zwischen zwei Regalen gewandt, verharrte er auf der Stelle und wartete darauf, dass das sichtbar wurde, was sich ihnen so lautlos näherte. Die anderen beiden hatten auch gemerkt, dass Onyx etwas aufgespürt hatte. Adarwen drückte sich an die Regalwand und Lapis zog seinen Freund schnell in die Ecke zurück, als eine menschliche Gestalt in der Öffnung erschien.
Adarwen war sich ziemlich sicher, dass sie bereits entdeckt waren, rutschte aber noch ein Stück zurück. Wer schlich hier außer ihnen im Dunkeln herum?
„Hallo? Kann ich ihnen helfen?“, sagte eine freundliche männliche Stimme.
„Wieso machen sie sich nicht etwas Licht? Licht, bitte!“
Es geschah wie am ersten Tag der Schöpfung – der ganze Raum wurde plötzlich mit Neonröhren erhellt, die die Wirkung von eversun aufhoben.

Der Mann trat jetzt direkt vor ihre Regalreihe, ohne ein Geräusch zu machen. Sie waren entdeckt. Aber als Adarwen ihren Blick hob, um den Kerl zu betrachten, der ihnen in die Quere kam, stand ihr der Mund offen.
In seinem üblichen Sakko und mit einem gewitzten Lächeln im Gesicht, blickte André Hibis direkt zurück zu ihr.

„Oh, eine Ritterin!“

Adarwen kniff sich selbst in den Arm. André hatte sie auf den Arm genommen! Nein, der Chef hatte sie auf den Arm genommen, als er ihnen aufgetragen hatte, nach seinem Sekretär zu suchen. War das vielleicht ein Test für sie gewesen?
„Was machst du hier? Alle suchen dich!“, sagte sie verwirrt. André steckte die Hände in die Hosentaschen und gesellte sich zu ihnen.
„Ach, echt? Wieso suchen sie mich denn?“
Adarwen blieb die Spucke weg.
„Oh. Vielleicht sollte ich zuerst erklären... Ich bin nicht wirklich André Hibis – obwohl ich genau so gut aussehe. Er hat mich nur als Abbild seines Gedächtnisses geschaffen. Und das war, als er zum letzten mal hier unten war, vor ungefähr drei Wochen. André recherchiert hier schon seit Ewigkeiten und braucht manchmal Gedächtnisstützen, wenn er nach ein paar Wochen Pause wieder kommt. Ich bin übrigens ohne materielle Substanz, das heißt, ihr könntet einfach durch mich durchlaufen.“, erklärte er voller Motivation. So ganz allein hier unten, ohne eine Menschenseele, mit der man sprechen konnte, war auch für Projektionen bestimmt anstrengend.

„Wenn ich mal testen darf?“ meldete sich Lapis und verpasste Andrés Gedächtnis einen Kick gegen den Kopf. Es erfüllte sich allerdings das, was er gesagt hatte und der Tritt ging ins Leere.
„Mein lieber Freund, sie haben ein Aggressionsproblem.“, sagte Andrés Gedächtnis nur und lachte.
„Ich bin nur misstrauisch. Aus Erfahrung.“, rechtfertigte Lapis seine Reaktion, auch wenn es ihm sichtlich Spaß gemacht hatte.

„Also, wenn ich fragen darf, nachdem ich mich erklärt habe, wieso sucht man mich?“

Adarwen fand es angemessen, ihm zu erklären, was auf dem Turnier passiert war. Je weiter sie erklärte, was bei dem Lanzenreiten passiert war, desto weiter hellte sich Andrés Mine auf, bis sie schließlich seine Besitztümer hervorholte, die er ihnen vermacht hatte.


„Es gibt keinen Zweifel daran. Es kann nur einen Grund geben, weshalb ich so überstürzt aufgebrochen bin. Ich habe gefunden, wonach ich all die Jahre hier unten geforscht habe. Vielen Dank, Adarwen, dass du mir diese Neuigkeiten überbracht hast! Eins könnt ihr euch sicher sein – André Hibis ist jetzt ein glücklicher Mann. Und ohne euch hätte er nie an diesem Turnier teilgenommen. Verrückt.“

Das Gedächtnis schüttelte seelenverloren grinsend den Kopf und hing ein paar Erinnerungen nach. Schließlich fand es wieder in das Hier und Jetzt zurück.
„So. Ihr habt mir eine Freude gemacht, jetzt will ich sehen, was ich für euch tun kann. Es wird jawohl einen anderen Grund geben, weshalb ihr hier unten seid. Wenn ihr mir verratet, was das ist, werde ich diesen mit Informationen vollgestopften Kopf anstrengen, um euch zu helfen!“


Irgendwie hatte der Mann es geschafft, seine Euphorie auf die anderen drei zu übertragen.
Auf Adarwens Gesicht breitete sich ein Lächeln aus.
Sie erzählte André auch noch von ihrem Ausflug in das Land der ersten Ritterinnen und wie das Volk dort fliehen musste. Schließlich kam sie nach Ausschweifungen über Karmesins Prophezeiung und die Wanderung des Tauchsieders schließlich zu ihrer jetzigen Situation.

„Wir wissen selbst nur sehr wenig über den Tauchsieder. Deshalb hoffen wir, dass wir über ein Buch, das die Königin uns überlassen hat, zu mehr Antworten kommen. Allerdings können wir es nicht lesen.“

„Habt ihr es dabei?“, fragte André, der selbst ziemlich bewandert in verschiedenen Sprachen war.
„Leider nein, Thalia hat es auf ihre Mission mitgenommen. Ich habe die erste Seite kopiert... mit deinem Stenokugelschreiber.“, fügte sie lächelnd hinzu.
„Der ist nützlich, nicht wahr? Darf ich mal sehen?“

Adarwen hob ihm das Stück Papier vor die Augen. Sie verfolgte, wie er die ersten Sätze steno ablies und er schließlich den Kopf schüttelte.
„Ich habe keine Ahnung, was das für eine Sprache ist. Es kann sein, dass nur wenige Eingeweihte sie beherrschen. Ich bezweifle, dass wir darüber ein Lehrbuch in unserem Archiv haben. Oder dass sich jemals ein Sprachforscher damit beschäftigt hat.“, musste er sie enttäuschen.

Adarwen hatte sich nicht zu viel Chancen ausgemalt, aber dieses Ergebnis enttäuschte sie schon.


„Allerdings...“, fuhr André seine Rede fort, nur um einen Moment zu zögern, „ … ihr müsst wissen, dass ich damals hier anfangen konnte, weil im ASN gerade ein Machtwechsel stattfand. Ich war noch recht neu in dieser Welt und hatte gerade ihre Grundzüge verstanden, aber ich wusste, dass ich in diesen Laden hier einsteigen musste, um die nötigen Freiheiten zu haben, das hier einsehen zu können. Also hängte ich mich an den jetzigen Chef mit dran und verhalf ihm dazu, der Nachfolger des damaligen Chefs zu werden. Aber vielleicht möchtet ihr euch setzen... das, was ich zu erzählen habe, ist nicht gerade kurz und wird euch sicher sehr interessieren.“


Adarwen wollte sich schon auf dem Boden niederlassen, aber das Gedächtnis des Generalsekretärs gebot ihnen, ihm zu folgen. Er führte sie sicher durch das Labyrinth aus Archivschränken und gestapelten Kartons bis zu einem sehr antik wirkenden massiven Holztisch, dessen schwarze, sternenförmigen Flecken vermuten ließen, dass er einem Magierlabor entstammte. Mehrere, völlig unterschiedliche Sitzmöglichkeiten, darunter ein Ohrensessel und ein Fußschemel, standen um den Tisch herum. Andrés Gedächtnis, bot ihnen an, sich zu setzen, während er selbst, aufgrund mangelnder Körperlichkeit weiter stehen musste.


Adarwen nahm als Kleinste in dem staubigen grünen Ohrensessel Platz, während Onyx sich einen Küchenstuhl aussuchte. Lapis jedoch blieb hinter dem Stuhl seines Freundes stehen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wollen sie sich nicht lieber setzen?“, fragte André noch einmal freundlich nach.
„Danke, meine Beine halten das aus.“, antwortete Lapis immer noch kühl.
Adarwen rollte mit den Augen. Man konnte es mit dem Misstrauen auch übertreiben.

„Na gut. Leider ist nichts zu trinken da... aber das hier ist ja auch ein Archiv.“
André räusperte sich noch einmal, bevor er mit dem eigentlichen Thema fortfuhr.
„Als ich damals an der Seite des damals noch sehr jungen Chefs anfing, durchlief das ASN gerade eine mittelgroße Stabilitätskrise. Sie müssen sich das so vorstellen: Unter Kreisen war seinen normalen Trott gewohnt, weit abseits der Probleme der nichtmagischen Welt. Man konnte fast schon sagen, es war eine neue Mode, in eine fremde Welt zu reisen, um dort Urlaub zu machen. Zwar war es recht leicht, als Bewohner unter Kreisens nach draußen zu kommen, aber dass Bewohner von außerhalb sich hier niederlassen, war sehr unerwünscht. Selbst ich hatte einige Schwierigkeiten, hinein gelassen zu werden. Und jetzt passiert es eines Tages, dass ein ganzes Volk durch ein solches Weltentor zu uns strömt. Flüchtlinge, ganze Familien mit Hausrat. Eben dieses Volk, dass von euren Vorgängerinnen evakuiert worden war. Es war dem ASN unmöglich, das zu verschleiern. Sofort stellten sich die Leute eine ganze Menge Fragen: Wieso fliehen diese Menschen aus ihrer Heimat? Lauert dort eine Bedrohung, auf der anderen Seite des Tors? Ein Krieg oder eine Seuche? Und wo sollten diese ganzen Menschen jetzt unterkommen? Die fielen doch sofort auf, sie brachten das empfindliche Gleichgewicht zwischen den beiden Gesellschaften durcheinander mit ihrer Unwissenheit. Und wieso hat das ASN nicht gehandelt, bevor es zu spät war?
Aber das tat es dann. Und wie es handelte! Unter gewaltigem, personellen Aufwand registrierten sie jeden einzelnen Bürger der anderen Welt und integrierten sie in diese. Natürlich gab es einige Meinungsverschiedenheiten mit der Königsfamilie, die schließlich besondere Privilegien eingeräumt bekamen. Es gibt übrigens ein interessantes Buch von einem dieser Bürger, „Entwurzeltes Kind“ hat er es genannt, weil er genau in der Zeit aufgewachsen ist, als seine Eltern hier Fuß fassen mussten. Es ist inzwischen schwer zu kriegen, aber bei mir zu Hause müsste ein Exemplar liegen, wenn es euch interessiert.
Das ASN schickte ein Untersuchungskommando an den „Krisenherd“, sprich, eure Burg und kam mit der Erkenntnis zurück, dass keine Gefahr für diese Welt drohe, dass aber zur Sicherheit der Durchgang versperrt bleiben müsse. Obwohl die offizielle Erklärung des ASN eine Seuche war, kursierten jede Menge Gerüchte, was der eigentliche Grund für die Evakuierung war. Die Bevölkerung, die die Fortschrittlichkeit dieser Welt nicht verstand, aber bewunderte, glaubte bald selbst daran, auch, weil sie nicht genau wussten, was sie angegriffen hatte. Auch, wenn das ASN nach außen hin so tat, als wäre der Vorfall beendet, tat es jede Menge dafür, das herauszufinden.

Als Konsequenz dieses Geschehnisses wurde die ganze ASN-Spitze ausgetauscht. So kam der jetzige Chef ins Amt und ich trat meine Stelle an. Um die unbekannte Bedrohung zu untersuchen wurden Augenzeugen aus dem Volk der Ritterinnen verhört bis zum Umfallen und man konnte diesen Dingen endlich einen Namen geben: Landfresser.
Eine körperlose, rauchförmige Masse, die sich über die Erde wälzt und dabei alles Leben aufsaugt, bis nur noch tote Ödnis zurückbleibt. Ein Augenzeuge berichtete sogar, dass die Landfresser, wenn sie einen Menschen fraßen, dessen Gestalt annehmen konnten.“

„Das stimmt!“, rief Adarwen plötzlich aus und hielt sich vor Schreck eine Hand vor den Mund. Sie war überrascht, dass sie so die Stimme erhoben hatte, aber bei Andrés Ausführungen hatten sich bei ihr die Bilder aus ihrer Prüfung wieder in den Kopf gedrängt. Sie erinnerte sich noch genau, wie Mesa vor dem Anführer der Landfresser gestanden war, der die Gestalt eines Teenagers angenommen hatte, um mit ihr zu sprechen. Mitten im Gespräch allerdings wurde er zu einer Wolke Rauch, der sich über sie ausbreitete und auf sie zustieb. Mit ihren letzten Gedanken wünschte sie sich mit aller Kraft, dieses formlose Ding von ihr fort stoßen zu können. So war ihr revenge beschert worden.


„Ich habe es auch gesehen.“, sagte Adarwen mit leiser Stimme, „sie können jede menschliche Gestalt annehmen, auch die eines alten Mannes oder Kindes.“

Andrés Gedächtnis nickte.

„Und das machte sie erst gefährlich. So wie es schien, war so ein Landfresser ursprünglich eine einfache Naturerscheinung. Wenn er aber einen Menschen intus hatte, bekam er ein Bewusstsein und einen Verstand. Und so begannen sie, ein Heer zu formen.“

„Dem ASN waren aber Augenzeugenberichte nicht genug. Sobald sie glaubten, genug Informationen zusammen zu haben, wagten sie einen weiteren Schritt. Mithilfe eines Großmagiers, gelang es dem ASN ein temporäres Portal zu öffnen und in einen Bereich des Landes vorzudringen, der bereits von den Landfressern heimgesucht worden war. Da ihnen dort die Nahrungsquelle fehlt, ist man da relativ sicher. Schließlich gelang es dem Forschungstrupp sogar einen solchen Landfresser zu fangen. Und seitdem wurde rege vom „inneren Postamt“ daran geforscht. Was dabei herauskam, war eine Waffe. Aber was genau, das erfahrt ihr besser nicht aus meinem Mund, sondern lest ihr selbst. Denn ich glaube nicht, dass das ASN im Stande ist, diesmal eine bessere Entscheidung zu treffen als vor fünfzig oder vor vier Jahren.“
Wenn Lapis nicht schon gestanden wäre, wäre er jetzt von seinem Stuhl aufgesprungen.
„Sie wissen, was vor vier Jahren passiert ist!“, platzte er sauer heraus.
„Ja. Und ich will nicht, dass es jemals wieder passiert. Denn ich glaube, wenn das ASN die Waffe vor vier Jahren nicht eingesetzt hätte, dann hätte es auch keine Prophezeihung gegeben.“

Andrés Gedächtnis zog eine Taschenuhr aus seine Hosentasche, warf einen kurzen Blick darauf und steckte sie wieder ein.
„Wir haben nur noch wenig Zeit, bis das Archiv scharf geschaltet wird, also sollten wir uns auf den Weg machen. Ihr solltet wenigstens wissen, womit ihr es zu tun haben werdet. Folgt mir bitte ein weiteres Mal.“
Jetzt war Adarwen gespannt. Sie würden zwar nicht das nach Hause bringen, weswegen sie hergekommen waren, aber vielleicht etwas viel Wichtigeres.
„Wo bringst du uns jetzt hin?“, fragte die Spionen, als sie tiefer in das Magazin hervordrangen und schloss zu Andrés Gedächtnis auf. Es legte einen schnellen Schritt vor.
„Die Unterlagen zum Landfresser – Projekt liegen an einer Stelle, zu der wir keinen Zugang haben und dort einzubrechen könnte sehr viel Schwierigkeiten bereiten. Mehr Schwierigkeiten, als hier einzubrechen. Sehr sehr viel mehr. Aber ich habe mich damals auch schlau machen wollen und deshalb gehen wir zu meinem Bestand.“
„Das ist wunderbar!“, jubelte Adarwen und erntete von Onyx verständnislose Blicke und von Lapis eine hochgezogene Augenbraue.
„Ach so. Verstehe.“, verbesserte sie ihren Gefühlsausbruch mit nüchterner Stimme.
„Allerdings könnten wir doch noch scheitern.“, sagte Andrés Gedächtnis, als er vor einer Stahltür stehen blieb.
„Und woran?“, fragte Lapis genervt. Andrés Gedächtnis deutete auf die Tür.
„Die Tür? Kein Problem.“ Lapis, dessen Geduld nach der kleinen Geschichtsstunde etwas strapaziert war, winkelte schon ein Bein an, um mit der Tür kurzen Prozess zu machen.
„Halt!“, rief Adarwen entsetzt. Zu ihrer Erleichterung wandte ihr Lapis den Kopf und damit seine Aufmerksamkeit zu.
„Und warum, Bonny?“
„Weil die Beamten, wenn sie das entdecken, die Sicherheitsma0nahmen zu verstärken werden, dass wir garantiert kein zweites Mal hier unten rein kommen werden!“, erklärte Adarwen sauer über seinen mangelnden Weitblick. Und wenn er sie noch mal „Bonny“ nennen sollte, würde sie ihm zeigen, wozu man so einen Panzerhandschuh noch verwenden könnte...
„Adarwen hat Recht“, nickte Andrés Gedächtnis, „das Problem besteht darin.“
Er deutete auf eine kleine runde Vertiefung an der Stelle, an der normalerweise ein Türspion angebracht wäre.
Die Vertiefung war nicht glatt, sondern wies ein Muster aus Bergen und Tälern auf, dessen genaue Gestalt in der schwachen Beleuchtung des Archivs nicht zu erkennen war.
„Dort muss der Siegelring des Generalsekretärs hineingesteckt werden. Da meine Wenigkeit dieses Amt nicht mehr bekleidet – wo ist der Ring jetzt?“
Lapis senkte seinen Fuß wieder auf den Boden. Selbst wenn sie es schaffen würden, den jetzigen Generalsekretär unbemerkt um seinen Ring zu erleichtern, würden sie es wohl kaum schaffen in so kurzer Zeit damit hier runter ins Archiv zu kommen, die Akten zu klauen und das Ding zurück zu bringen, ohne dass das nicht auffallen würde.
Adarwen seufzte. Dann fiel ihr etwas ein.
Sie kramte noch einmal im nimmervollen Gürtel um ihre Hüfte und holte Andrés Abschiedsbrief hervor.
„Warum eigentlich ein Ring? Sind etwa alle Generalsekretäre mit der Behörde verheiratet? Wäre nicht ein Halsband passender?“
„Das ist eine sehr berechtigte Frage. Sollte ich jemals die Gelegenheit haben, noch einmal an einer Generalstabssitzung teilzunehmen, werde ich vorschlagen, es in Erwägung zu ziehen, Halsbänder einzuführen.“
Lapis und Andrés Gedächtnis trugen ein Blickduell aus, bis schließlich das Abbild des Ex-Generalsekretärs als Sieger aus diesem Schlagabtausch hervor ging.
„Du schreibst hier“, klinkte sich Adarwen wieder ein, als sie die Stelle gefunden hatte, „du hast in Martini einen würdigen Nachfolger hier gelassen.“
„Das ist sehr interessant“, entgegnete Andrés Gedächtnis, „Ich kenne nämlich keinen Martini.“
„Aber das ist doch deine Handschrift, oder?!“
Adarwen hielt ihm das Stück Papier vor die Nase, sie war langsam am Ende mit ihrem Latein.
„Das hat tatsächlich mein physisches Ich geschrieben, wie es aussieht“, bejahte er, „aber wenn ich einen Martini kennen würde, würde ich mich erinnern. Immerhin bin ich ein Gedächtnis. Martini – was ist das überhaupt für ein Name!“


Während Adarwen und das Gedächtnis ihre grauen Zellen anstrengten, wurde Lapis energisch am Hemdsärmel gezupft.
„Kriegen wir etwa Gesellschaft?“
Onyx nickte.
„Er ist sehr aufgeregt. Ich glaube, er hat uns schon gerochen.“
„Gerochen?! Hey, haben die Wachhunde hier?“
Andrés Gedächtnis hob eine Augenbraue.
„Wenn das noch eine dumme Anspielung auf meine Position sein soll -“
„Soll es nicht!“, zischelte Lapis und wandte sich lieber wieder an seinen Partner für Informationen.
„Verstecken? Weglaufen?“
Onyx schüttelte den Kopf.
„Er ist gleich da.“
Adarwen biss sich auf die Lippe. Das war die größte Spionage-Blamage, die sie jemals erlebt hatte. Innerhalb kürzester Zeit waren sie drei Mal entdeckt worden. Erst ein Eichhörnchen, dann noch ein Gedächtnis auf zwei Beinen, was war es diesmal?

Um die Ecke kam eine Kaffeetasse, getragen von einem schlanken Mann mit langen, gelockten, braunen Haaren, der prüfend seine Nase vor streckte, als würde er die Umgebungsluft prüfen.
Sie sahen ihn, er sah sie.
„Boss!“, rief der Mann freudig aus und ging eiligen Schrittes auf die Gruppe zu. Dann hielt er plötzlich vor Onyx inne und begann wieder zu schnuppern.
„DU – riechst seeehr seltsam!“ Dann wandte er sich wieder Andrés Gedächtnis zu und es wurde klar, dass er ihn mit „Boss“ gemeint hatte.
„Ich habe dich gefunden, Boss! Was machst du hier? Kaffee?“
Der seltsame Mann streckte dem Gedächtnis die Kaffeetasse (mit kaltem Kaffee) hin und offenbarte den Siegelring des Generalsekretärs an seiner Hand.
„SIE sind Martini?“, rief Adarwen fast schon entsetzt.
„Ja, Martini Ethion. Hallo, Adarwen!“
Alle entfernten sich einen gebührenden Schritt von dem schrägen Neuankömmling.
„Was ist denn? Klang ich unfreundlich?“
Martini nahm enttäuscht die Kaffeetasse zurück und sah Andrés Gedächtnis mit einem regelrechten Hundeblick an.
„Moment mal!“, kam es dem auf einmal, „DU bist's, alter Junger! Aber wie kann das sein?“
Martinis Gesichtsausdruck hellte sich auf, als „Boss“ ihn erkannte und er beugte sich vor, um ihm die Erklärung ins Ohr zu flüstern. Da hellte sich ein weiteres Gesicht auf, während Adarwen und Lapis, deren Chancen, jemals zu erfahren, was zum Kuckuck hier vor sich ging, sich gerade astronomisch verschlechterten, ziemlich düster dreinschauten.
„Verrückt!“, meinte Andrés Gedächtnis, Was habe ich an diesem Abend bloß getrunken...“
„Ich glaube, Martini, Boss.“, sagte Martini und grinste.
„Jedenfalls... Der Siegelring ist hier!“, schob André weitere Fragen beiseite, „aber wie kommst du gerade jetzt hier her?“
„Ich bin meiner Nase gefolgt. Es war ein sehr seltsamer Geruch. Sehr schwer zu beschreiben. Gar nicht alltäglich. Irgendwie ursprünglich und ganz versteckt erdig... als hätte man ein Stück Wald in ein Schraubglas gefüllt und dann ganz fest zugedreht. Und darüber liegt dann -“
„Ist schon gut, du bist deiner Nase gefolgt.“, winkte Andrés Gedächtnis ab und warf noch einmal einen kurzen Blick auf seine Taschenuhr, „Tu' mir einen Gefallen und stecke den Ring in die Vertiefung da.“
Martini blickte einmal auf seine Hand, dann auf die Tür, dann nickte er und sagte:
„Das kann ich machen – Ich hab' nämlich Finger!“
Andrés Gedächtnis ließ das Gesicht auf seine Handflächen sinken, bei so viel Verpeiltheit.
„Ja, du hast Finger. Guter Kunge. Jetzt mach!“
Sofort als das Siegelbild in seine Negativform einrastete, klackte etwas im Inneren der Tür, gefolgt von drei dumpfen Schlägen. Als Adarwen dann noch das Rattern eines schweren Zahnrades hörte, war sie sich ziemlich sicher, dass sie es hier mit einer Schraubkatz – der – Tüftler Konstruktion zu tun hatten.
Martini zog erschrocken seine Hand zurück, als die komplette Tür senkrecht in den Boden fuhr.
„Hereinspaziert.“, sagte Andrés Gedächtnis und ging voran.
Die Kammer war sehr klein, sie passten gerade so zusammen in den quadratischen Raum, dessen Wände komplett mit Regalen bedeckt waren.
Die Regale hatten lauter Fächer verschiedenster Größe, die alle mehr oder weniger mit Schriftgut, Karteikästen und einem chinesischen Papierdrachen vollgestopft waren. Adarwen entdeckte einen ganzen Regalboden mit Ausgaben des Schuppensänger Romans, den er auch den Ritterinnen vermacht hatte, scheinbar war André reichlich vom Autor beschenkt worden.
Die Spionin fuhr kritisch die Regale mit ihren Augen ab und versuchte, die Dokumente und Schriftstücke auf ihre Wichtigkeit und Geheimheit einzuschätzen.
„Wie ihr seht, wäre es so wieso Zeit geworden, dass ich kündige. Absolut – kein – Platz – mehr!
Adarwen, wenn du mal bitte diese Archivschachtel da rausholen könntest? Dahinter ist noch ein Fach.“
Adarwen knackte mit den Fingern und machte sich ans Werk.
Hinter der schlichten grauen Schachtel befand sich ein unauffälliger Griff, an dem sie zog und der eine erstaunlich lange Schublade zum Vorschein brachte, die mit Hängeregistern gefüllt war. Dieses Archiv beherbergte eindeutig noch viele weitere Überraschungen.
Andrés Gedächtnis ließ sie ein Register mit der Beschriftung „Zi – 09/202“ herausziehen, das sie auf sein Drängen gleich im nimmervollen Beutel verstaute.“
„Was liegt hier sonst noch so?“, fragte sie ganz und gar beiläufig und völlig intentionslos.
„Einladungen, Gastgeschenke, Liebesbriefe... Aber vor allem meine Recherchen. Vieles ist recht belanglos, aber Einiges könnte ein oder zwei mittelgroße Revolutionen hervorrufen. Was ihr NICHT wollt. Glaubt mir.“, fügte er hinzu, als er das Blitzen in Lapis' Augen bemerkte.
„Und jetzt nichts wie raus hier. Euer „Besuch“ ist schon zu lange gute gegangen. Martini wird euch alles zu diesem Reitervolk heraussuchen, zu dem wir Zugang haben.“
„Ach, werde ich das?“, fragte Martini mit freudig erregter Stimme, dass man ihm so eine bedeutungsvolle Aufgabe übertragen hatte.
„Was habe ich mir nur dabei gedacht!“, stöhnte Andrés Gedächtnis leise. Die wahre Bedeutung hinter dieser Klage sollte Adarwen noch längere Zeit verborgen bleiben.
Gerade, als sie in der Regalreihe angelangt waren, an deren Ende sich der Luftschacht befand, blieb Martini stehen und spitzte die Ohren.
„Da kommen Sicherheitswesten.“, sagte er alarmiert.
Der Ausdruck im Gesicht von Andrés Abbild verdüsterte sich.
„Macht, dass ihr rauskommt. Ich rede ein bisschen mit ihnen.“


„Sicherheitswesten?“ Adarwen konnte sich darunter nicht wirklich etwas vorstellen.“
„Das sind Agenten mit sehr großen Befugnissen.“, erklärte Lapis in Flüsterton. Er und Onyx mussten ihnen scheinbar auch schon öfter aus dem Weg gehen.
„Dass sie hier sind, heißt wohl, dass sie Schillerlocke hier beobachtet haben und ihm hier her gefolgt sind.“ Lapis warf Martini einen bösen Blick zu.
„Ich war noch nie gut im Schleichen.“, gab der betreten zu und wurde sofort von den anderen ausge“SHHHT!“.
Von weiter vorne im Raum war Andrés Gelächter zu hören.
Er tat sein Bestes, die Männer bei ihren Ermittlungen aufzuhalten.
„Du lässt dir am besten schon mal eine Ausrede einfallen, warum du hier unten bist, die dich nicht verdammt aussehen lässt.“, riet Lapis dem neuen Generalsekretär, während Onyx sich von seiner Schulter abstützte, um sich durch die Öffnung in der Wand zu zwängen.
„Die sind nicht zimperlich damit, Personen auszutauschen. Und Hundeblick wird nicht reichen.“
„Das ASN ist einfach verwirrend! Die können doch nicht erwarten, dass ich mich an meinem zweiten Arbeitstag schon problemlos überall zurecht finde!“, sagte Martini und wischte sich die Locken von der Schulter.
„Dumm spielen könnte wirklich erstmal ein guter Plan sein.“, nickte Adarwen und hangelte sich als Letzte nach oben.
„Wieso spielen?“, Martini sah ihnen verständnislos nach.
„Ich meine – vergiss es.“


Da war ein lautes „Unverschämtheit!“ aus dem Gang zu vernehmen. Martini nahm, als er die Stimme von „Boss“ hörte, sofort eine Hab-Acht Stellung ein und hechtete los.
Als er am Ende des Regals angekommen war, an dem er noch ungesehen die Szene beobachten konnte, sah er gerade wie einer der zwei Männer einmal senkrecht mit der Hand durch Andrés Gedächtnis fuhr.

Die beiden Agenten des Inneren Postamts trugen tatsächlich die orangefarbenen Sicherheitswesten, wie man sie normalerweise bei Bauarbeitern im Schienen- und Straßenverkehr sah. Diese Aufmachung wirkte hier zwar etwas Fehl am Platz, eröffnete ihnen aber sonst die Möglichkeit, sich unbehelligt an den unüblichsten Orten aufzuhalten.
„Was meinst du, Quadrans?“, meinte der eine Agent mit gedämpfter, dunkler Stimme. Sein Kollege beugte sich weiter vor, was Andrés Gedächtnis dazu veranlasste, sich von dem Mann mit dichtem Schnauzer und Nickelbrille weg zu lehnen.
„Diese Projektion hat sein Haltbarkeitsdatum eindeutig überschritten. Wenn die in einer Woche noch hier herumgeistert, sollten wir vielleicht mal Aranmanoth runter schicken, damit der Kammerjäger spielt.“
Martini entfuhr ein kleines Fiepen, als er das hörte.

Adarwen, Lapis und Onyx machten schleunigst, dass sie wieder nach draußen kamen.
Es war nicht leicht, den weg hinaus wieder zu finden, denn das höllische Labyrinth veränderte sich ständig. Aber das kontinuierliche Rattern wirkte fast schon beruhigend, denn solange das Fallensystem angeschaltet war, so hatte Andrés Gedächtnis ihnen versichert, müssten sie keine Wachen an ihren Fersen fürchten.
Stattdessen begleitete sie das kleine, von Maschinenöl ganz schmierige Eichhörnchen bis zum Ausgang, um sicher zu gehen, dass sie nicht eingeklemmt wurden und so die Zahnräder behinderten.
Lapis atmete auf, als er nach Adarwen seinen Kopf an das schon schwächer werdende Tageslicht schob. Nachdem die Spionin und Onyx sich versichert hatten, dass die Luft rein war, gingen sie zurück zu Condor, der den Tag über unbemerkt auf dem Hochhausdach geschlummert hatte.
„Wo soll ich euch absetzen?“, erkundigte sich Adarwen und kraulte dem Drachen, der sich über ihre Rückkehr freute, den Hals.
„Bei eurer Burg, nehme ich an.“, sagte Lapis.
„Ach.“
Adarwen klang recht ungläubig.
„Wir gehen dahin, wo die Akte hingeht. Und daran wirst du nichts ändern, Bon- Adarwen.“, bekam Lapis noch gerade so die Kurve.
„Na gut. Ich habe nichts dagegen. Aber ihr reist auf eure Verantwortung. Aufsteigen, die Herren.“
So machte sich die erste Gruppe erfolgreich auf den Heimweg. Keinem der beiden fiel auf, dass Onyx leise lächelte, als er hinter seinem Partner den Drachenrücken bestieg.


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